■ Die Haltung des Westens gegenüber Ex-Jugoslawien: Anerkennung der „Realitäten“?
Eine Wiederherstellung des Status quo ante wird es im ehemaligen Jugoslawien nicht geben. Von einem bestimmten Punkt an werden nach dem Desaster innerhalb Jugoslawiens, aber auch der internationalen Politik gegenüber Jugoslawien die neuen Realitäten anerkannt werden müssen. Denn zumindest außerhalb des ehemaligen Jugoslawien dürfte nach den Erfahrungen der vergangenen zwei Jahre niemand bereit sein, militärisch erkämpfte Grenzverschiebungen durch militärische Aktionen rückgängig zu machen. Sie vermittels diplomatischer Verhandlungen zu revidieren käme aber einem politischen Wunder gleich.
Fünf Grundfragen
1. Wird Kroatien die inzwischen von der serbischen Kriegspartei militärisch durchgesetzte Amputation des eigenen Landes akzeptieren, und wird die eigene kroatische „Landnahme“ in Bosnien-Herzegowina als territorialer Ausgleich begriffen werden? Oder wird die serbische Annexion zu einem dauerhaften „Irredentismus“ führen?
2. Ist Serbien nach den Eroberungen in Kroatien und in Bosnien-Herzegowina ein saturierter Staat geworden, und ist damit der Traum von Großserbien erfüllt? Oder ist das nur der Beginn von weitergehenden Maßnahmen der Vertreibung im Kosovo, im Sandjak und in der Vojvodina sowie der Ausgangspunkt eines Übergriffs auf Teile von Makedonien?
3. Ist Makedonien langfristig stabilisierbar? Was geschieht, wenn der bulgarische beziehungsweise der albanische Bevölkerungsteil politisch in Richtung auf die Nachbarstaaten Bulgarien und Albanien abdriftet? Wird, was zu befürchten ist, Restmakedonien dann zu einer von Serbien, Bulgarien, Griechenland und Albanien umkämpften Verfügungsmasse?
4. Im Falle einer Dreiteilung von Bosnien-Herzegowina: Ist ein lebensfähiger gemischtethnischer Reststaat als lebensfähiges Gebilde vorstellbar?
6. Wie läßt sich die „albanische Frage“ regeln? Ist eine Stillegung der Selbstbestimmungsbestrebungen der Albaner im Kosovo und
in Makedonien realistischerweise überhaupt noch zu erwarten?
Lernprozesse
Wie tief und in absehbarer Zeit unauslöschlich ist der durch das kriegerische Geschehen aufgewühlte Haß zwischen den Volksgruppen im ehemaligen Jugoslawien? Welche Ansatzpunkte für gemeinsame Lernprozesse gibt es überhaupt noch? Lernprozesse resultieren oft aus kollektiven psychischen Erschütterungen in der Folge von katastrophalen militärischen Niederlagen. Solche Niederlagen zeichnen sich aber derzeit nicht ab, und sie wären nur vorstellbar, wenn es zu einem militärischen Konflikt zwischen Serbien und der internationalen Gemeinschaft käme, den Serbien nicht siegreich durchstehen könnte. Wie stellt sich das Problem der Anerkennung, wenn wir von einem solchen Konflikt für die nächste Zeit nicht ausgehen?
Eine Anerkennung des neuen militärisch erkämpften Status quo auf dem Balkan widerspräche allen Prinzipien, die in den vergangenen Jahren zum Beispiel im Rahmen der KSZE feierlich erklärt wurden, so insbesondere dem Prinzip der Unverrückbarkeit der Grenzen außer im Falle von konsensualen Vereinbarungen aufgrund von Verhandlungen. Legitimiert würden zudem die Kriegshandlungen, die in Jugoslawien begangenen Kriegsgreuel einschließlich der Vertreibungen und Vergewaltigungen. Der von der internationalen Gemeinschaft angekündigten strafrechtlichen Verfolgung von Kriegsverbrechen wäre weitgehend der Boden entzogen.
Gibt es angesichts solcher gravierender Gründe gegen eine Anerkennung der inzwischen geschaffenen Tatbestände überhaupt noch Gründe, die gegebenenfalls für eine solche Anerkennung sprächen?
Ein erster Grund besteht darin, daß eine solche Anerkennung früher oder später ohnehin zustande kommen wird, vorausgesetzt, eine militärische Pattsituation zwischen Serbien und Kroatien bleibt in etwa bestehen. Mittel- und langfristig wird die internationale Gemeinschaft mit den neuen Realitäten wenn nicht sich anfreunden, so doch „realistisch“ rechnen müssen. Wenn dem unabweisbar so sein wird, dann stellt sich letztlich die Frage, ob – erstens – eine sehr frühzeitige Anerkennung der jetzt geschaffenen Realitäten zur Stabilisierung der Gesamtlage beitragen würde und ob – zweitens – eine solche Anerkennung insbesondere Einwirkungsmöglichkeiten schüfe, die im Falle einer späteren oder einer Nichtanerkennung nicht mehr bestünden.
Unterstellt man hinsichtlich der jetzt beobachtbaren Politik auf dem Balkan aggressives Machtstreben, Ethnofundamentalismus, autistische Orientierungen mit wahnhaften Zügen und einen sich vertiefenden Haß, würde die frühzeitige Anerkennung der inzwischen geschaffenen Tatbestände kaum einen Unterschied für das weitere politische Geschehen in diesem Raum machen. Unterstellt man demgegenüber trotz allem die Chance für Lern- und Kompromißfähigkeit, wären Ansätze für einen neuen politischen Modus vivendi vorstellbar. Im letzteren Fall könnten Einwirkungen von außen hilfreich sein, um den heute fast unüberwindbar erscheinenden wechselseitigen Blockaden entgegenzuarbeiten.
Falls die frühzeitige Anerkennung Perspektiven für eine Regelung der aufgezeigten balkanischen Fragen eröffnete, ließe sich also ein solcher Schritt trotz aller überzeugenden Gegenargumente aus Gründen der politischen Klugheit rechtfertigen.
Angesichts der in den vergangenen zwei Jahren im Raum des ehemaligen Jugoslawien zu beobachtenden Verrohung des Zusammenlebens ist eine Rezivilisierung des politischen Lebens aller Wahrscheinlichkeit nach nur durch Einwirkungen von außen zu erreichen. Wenn diese Prämisse zutreffen sollte, dann gehörte zur Kunst, auf dem Balkan Frieden zu stiften, eine mit positiven und negativen Sanktionen versehene konditionierte Politik der Anerkennung der eingetretenen neuen politischen Realitäten.
Sanktionspolitik
Positive Sanktionen würden in erforderlichen Hilfestellungen materieller und immaterieller Natur bestehen; negative Sanktionen einschließlich militärischer Maßnahmen müßten jene gewärtigen, die erneut vor Ort militärische Gewalt zur Durchsetzung eigener Interessen einsetzen würden.
Die Anerkennung von außen hätte also bei den auswärtigen Mächten eine gemeinsame Lagebeurteilung zur Voraussetzung, weiterhin die kollektive Bereitschaft, gegebenenfalls auch äußerste Machtmittel einzusetzen. Gelingt es nicht, eine solche gemeinsame Lagebeurteilung zu finden, und ist eine Bereitschaft zur Absicherung der eigenen Strategie mit einem breitgefächerten Instrumentariumn nicht vorhanden, wäre eine Anerkennung der militärisch geschaffenen Tatbestände nicht sinnvoll.
In einer politischen Situation, wie sie auf dem Balkan entstanden ist, bleibt jede Option mit vielen Risiken behaftet. Da aber früher oder später ein neuer politischer Modus vivendi gefunden werden muß, sollten möglichst frühzeitig möglichst viele Optionen durchdacht werden. Dieter Senghaas
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