„Den Westlern fehlt Geduld“

Türkische Unternehmer wollen ganz langfristig mit den neuen unabhängigen Republiken südlich von Rußland ins Geschäft kommen  ■ Aus Istanbul James Dorsey

An der Kreuzung zwischen Europa, Asien und dem Nahen Osten sieht die Türkei nach dem Kalten Krieg für sich eine Schlüsselrolle in einer Region mit großen natürlichen und menschlichen Ressourcen. Auf der Suche nach einer neuen internationalen Nische als Ersatz für ihre vergangene Funktion als einziger Nato-Staat mit einer Grenze zur Sowjetunion bemüht sich die türkische Regierung um enge Beziehungen zu den neuen unabhängigen Republiken.

Etwa 700 türkische Firmen haben – unterstützt durch günstige Kredite der Regierung und der Eximbank in Höhe von 2,7 Milliarden Dollar – die Chance genutzt und sich große Aufträge in der Infrastruktur gesichert. Der Handel zwischen der Türkei und den GUS-Staaten dürfte in diesem Jahr drei Milliarden Dollar übersteigen; türkische Offizielle sind überzeugt, daß er sich in den kommenden fünf Jahren verdoppeln, wenn nicht gar verdreifachen wird.

„Wir suchen nach Partnern für Dreiecksgeschäfte und werden in den nächsten fünf Jahren dafür bis zu neuen Milliarden Dollar aufbringen“, sagt Umut Arik, der Leiter der türkischen Behörde für internationale Kooperation, die im letzten Jahr vom türkischen Außenministerium gegründet wurde. Darüber hinaus sorgt die Türkei für eine wohlwollende Haltung der zukünftigen Elite der fünf zentralasiatischen Staaten Kasachstan, Usbekistan, Kirgistan, Turkmenistan und Tadschikistan, indem sie 10.000 Studenten aus der ganzen Region in ihre Universitäten aufnimmt – das größte derartige Projekt auf der ganzen Welt.

In einigen Fällen konnten türkische Geschäftsleute bereits Positionen erringen, aus denen sie die Wirtschaftspolitik beeinflussen können, wie Namek Ikinzer. Der Leiter der Ekinziler Holding, die sich in Turkmenistan Bauaufträge über mehr als 100 Millionen Dollar verschaffte, ist sowohl türkischer wie turkmenischer Staatsbürger und dient dem turkmenischen Präsidenten Saparmurad Nijasow als Wirtschaftsberater.

Ikinzer ist ständig zwischen Istanbul und Aschchabad unterwegs; er beziffert die gesamten türkischen Investitionen in Turkmenistan auf 700 Millionen Dollar, davon 450 Millionen Dollar im Textilsektor.

Turkmenistan produziert 1,4 Millionen Tonnen Baumwolle jährlich und ist für die Türkei ein idealer Partner, meint er. „Die Türkei verfügt über die Marktkenntnis und die Technologie, Turkmenistan hat billige Baumwolle von hoher Qualität und außerdem billige Energie und billige Arbeitskräfte.“ Nach seinen Schätzungen werden die turkmenischen Textilexporte im nächsten Jahr auf über 200 Millionen Dollar steigen.

Private türkische Telekommunikationsfirmen wie Netas, Teletas Simko modernisieren das zentralasiatische Telekommunikationsnetz und verbinden es mit dem türkischen Telefonsystem. Türkische Handelshäuser wie Degere Enterprises, das an einem dreistufigen 100 Millionen Dollar-Projekt von Siemens in Turkmenistan beteiligt ist, kümmern sich um die Tauschgeschäfte innerhalb der Projekte.

Mitte 1993 hatten sich türkische Firmen wichtige Aufträge für die Infrastruktur im Wert von über 600 Millionen Dollar gesichert, sagt Seltschuk Demirel, ein höherer Beamter im türkischen Finanzministerium. „Es ist unglaublich: in Zentralasien kommen auf jeden anderen Ausländer zehn Türken. Die Türken bauen Hotels, Straßen und Elektrizitätswerke. Sie kaufen Textilien und Leder. Jeder türkische Geschäftsmann ist dabei oder will dabei sein“, sagt Ali Bozkurt, während er von seiner Terrasse aus den Frachtern zusieht, die auf dem Bosporus vorbeigleiten.

Bozkurt weiß, wovon er spricht. Geboren ist er in der Türkei, aber nun ist er amerikanisch-türkischer Staatsbürger, und seine Firma ist eine der ersten privaten türkischen Firmen, die im Ausland tätig wurden; inzwischen hat sie sich einen 1,7 Milliarden Dollar-Auftrag in Kasachstan gesichert, einschließlich des Baus von Elektrizitätswerken und Gaspipelines und der Ausbeutung eines Erdölvorkommens. Außerdem ist Bozkurt offizieller Koordinator der turkmenischen Bemühungen, Gas nach Westeuropa zu liefern.

Wie die meisten türkischen Geschäftsleute in Zentralasien denkt Bozkurt mehr an die langfristige Strategie als an unmittelbare Gewinne. „Die Geschichte zeigt, daß nach der Unabhängigkeit gewöhnlich der Bürgerkrieg kommt. Wir wissen nicht, was passieren wird. Aber türkische Geschäftsleute sind eher als andere zu Risiken bereit“, meint er. Insgesamt bringt sich die türkische Geschäftswelt in eine Position, in der sie kurz- wie auch langfristig beträchtliche Profite ernten kann. Die türkische Pharmafirma Ekzazibasi zum Beispiel ist zum größten Lieferanten von Seren und zum zweitgrößten Pharma-Exporteur in die GUS- Staaten geworden.

Ziraat Bankasi, eine türkische Staatsbank, gründet Joint-venture- Banken in Kasachstan, Usbekistan, Aserbaidschan und Turkmenistan, um die Finanzgeschäfte zwischen der Türkei und den Turk- Republiken der früheren Sowjetunion zu fördern. Türkische Baufirmen unterzeichneten im letzten Jahr Verträge im Wert von 1,5 Milliarden Dollar mit den GUS-Staaten und erwarten in diesem Jahr mindestens zwei Milliarden Dollar.

Bei seinen Geschäftspartnern ist Nihad Gokyigit als „Mr. Pipeline“ bekannt. Der Vorsitzende der Tekfer-Holding und des Wirtschaftsrates von Türkei und GUS argumentiert, der Südgürtel der ehemaligen Sowjetunion werde hinsichtlich der geschäftlichen Möglichkeiten den arabischen Ölstaaten der siebziger Jahre gleichkommen, sobald erst einmal zentralasiatisches und aserbaidschanisches Öl und Gas nach Westen zu fließen begännen.

„Wenn der Westen neue Märkte will, und wenn er will, daß sich diese Völker wirklich auf eine Marktwirtschaft zubewegen, dann sind zwei Projekte von entscheidender Bedeutung: Öl für das Mittelmeer und Gas für Europa“, sagt Gokyigit, während er auf der Karte dem Verlauf alternativer Pipeline- Routen folgt, dem Ergebnis einer Untersuchung der türkischen Regierung. „Werden diese Projekte realisiert, dann ersaufen diese Länder in Devisen.“

Aber der Türkei fehlen aufgrund ihrer schweren Verschuldung und der galoppierenden Inflation die Barmittel, um sich im gleichen Maßstab in die GUS- Staaten einzukaufen wie westliche Firmen. Chevron zum Beispiel schloß in diesem Jahr einen Vertrag über 20 Milliarden Dollar ab, zur Ausbeutung kasachischen Öls. Daher agiert die Türkei westlichen Experten zufolge in dieser Region nicht nur als unabhängige Kraft, sondern auch als Zwischenhändler. Und außerdem erkannten Zentralasiaten und Kaukasier schon bald nach der Unabhängigkeit, daß sie unmittelbar mit der Außenwelt verhandeln konnten und die Türkei als Zwischenhändler nicht brauchten.

Türkische Offizielle weisen solche Argumente als verfrüht zurück. „Wir sind erst am Anfang. Es wird noch bis zu zehn Jahre dauern, bis die Blüte einsetzt“, sagt der türkische Präsident Suleiman Demirel. Degere, ein wichtiger Ölexporteur aus der autonomen Turk- Republik Tartastan in Rußland, erinnert sich an einen alten Mann in Kasan, der ihm die Hand küßte und sagte: „Endlich hat Gott sich gezeigt. Die Türken sind hier.“ Degere sagt: „Die Türken haben zu diesen Völkern nicht nur sprachliche und ethnische Beziehungen. Türkische Geschäftsleute haben auch die Geduld und die gesunden Mägen, die in diesem Teil der Welt vonnöten sind; die Westler haben das nicht.“

Aus dem Amerikanischen von Meinhard Büning