■ Wahlen in Hamburg: Eine ganz normale Sensation
Ein politisches Erdbeben hat Hamburg erschüttert. Die brave und reiche Kaufmannsstadt ist für ihre Lust an ruhiger Kontinuität und der Stabilität berüchtigt. Doch diesmal waren die WählerInnen außer Rand und Band: Den alten bürgerlichen Parteien verpaßten sie einen nie erlebten Stimmen-GAU, die allein regierende SPD wurde trotz eines hocheffektiven Wahlkampfs böse abgestraft. Doch - kaum noch einer wundert sich. Warum auch? Das Chaos in der Urne ist zum Alltag geworden - gemessen am Deutschland der Jahre 1949 bis 1989. Im Gegensatz zur Bürgerschaftswahl im Jahr 1991 fanden die Unzufriedenen diesmal reiche Beute auf dem Stimmzettel: Nichwähler (gut 30 Prozent) und Anti-Wähler (fast 10 Prozent für Rassisten und Nazis, deutlich über fünf Prozent für die Statt-Partei) summieren sich auf ein fast 50prozentiges Nein zur Politik im alten Stil. Und plötzlich sind die Grünen auch in Hamburg der entscheidende Faktor politischer Stabilität. Joschka Fischers Marschroute, der angeschlagenen, ideenlosen und erneuerungsschwachen deutschen Sozialdemokratie grüne Profis mit Wachstumspotential beiseite zu stellen, hat in Hamburg eine wichtige Bewährungsprobe bestanden. Nach dem Wahlsieg des rot-grünen Oberbürgermeisters Christian Ude ist Hamburg ein zweites Signal für die einzige Wende in Bonn und Berlin gegeben worden, die derzeit noch einen Funken von Perspektive versprüht. Rudolf Scharping wird das nur ungern zur Kenntnis nehmen, Gerhard Schröder bitter grinsen. Auch Hamburgs Erster Bürgermeister und Spitzenkandidat, der Scharping-Fan Henning Voscherau, wird in den sauren grünen Apfel beißen müssen. Eine Große Koalition wird von SPD- Wählern, Stadtbevölkerung, Gewerkschaften und SPD- FunktionärInnen so eindeutig abgelehnt, daß es schon eines kleinen Wunders bedürfte, sollte in Hamburg die Große Koalition der Wahlverlierer zustande kommen. Doch die grünen MacherInnen, in Hamburg erstmals im betulich-freundlichen Realo-Outfit angetreten, versprechen mit dem müden rostroten Tanker nicht jenen Tanz der Verhältnisse, nach dem die Gegenwart schreit. Die Nicht- und Antiwähler werden mit einem halbherzigen flauen Reformgemauschel nicht zurückgewonnen, die aktuellen Probleme nicht gelöst werden können. Florian Marten
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