: Gemeinsam gegeneinander
Das Doppeldebakel der letzten Tage dürfte das Führungspersonal von Freidemokraten und Union das Gruseln lehren: Die wahrhaft fürstliche Niederlage der Bonner Koalitionäre in Hamburg und das Hickhack um die Pflegeversicherung strapazieren das Bündnis zwischen FDP und CDU.
Wetten, daß die Pflegeversicherung noch vor der nächsten Bundestagswahl unter Dach und Fach sein wird? Gewiß, es fehlt der Glaube, wenn man den jüngsten Aufzug dieses mehraktigen Dramas um die „fünfte Säule der Sozialversicherung“ (Arbeitsminister Norbert Blüm) ansieht. Trotzdem, die Wette gilt. Fügen wir eine zweite gleich dazu. Wie immer der Kompromiß zwischen den Koalitionsparteien plus SPD aussehen wird, am Ende, nämlich bei den Wahlen des nächsten Jahres, werden die Strategen in den Parteizentralen stöhnen: Undank ist der Welt Lohn. Denn die wahrhaft fürstliche Niederlage der drei Etablierten in Hamburg ist ein Vorbote für das Wahljahr 1994.
Die Hängepartie mit der Pflegeversicherung gerät zum Trauma
Hamburg und die Pflegeversicherung haben einen zweiwöchigen Höhenflug jäh gebremst. Standortpapier, Haushaltsdebatte, schließlich der CDU-Parteitag – beachtlich, wie die Koalition, wie insbesondere Helmut Kohl in die letzte Runde vor der Mammutschlacht um Stimmen und Prozente gestartet ist. Die SPD bereitete sich unter ihrem neuen Parteivorsitzenden auf einen nur mäßig zerstrittenen Parteitag vor, was für diese Partei schon allerlei wert ist.
Jetzt sind sie alle wieder auf dem Hosenboden gelandet, voran die Koalitionsparteien. Das Doppeldebakel der letzten Tage muß das Führungspersonal in Union und FDP einmal mehr das Gruseln lehren. Die FDP glänzt in den Umfragen, fliegt aber aus der Hamburger Bürgerschaft hinaus. Die Union rutscht in der Millionenstadt in das 20-Prozent-Ghetto – ganz unabhängig vom bundesweiten Aussagewert eine kleine Katastrophe. Die Hängepartie mit der Pflegeversicherung gerät zum Trauma für diese Koalition, kein Projekt der Bundesregierung strapaziert das Bündnis zwischen der liberalen Klientelvereinigung und der christlichen Volkspartei derart nachhaltig.
Die SPD übrigens, die jetzt gut poltern kann, sitzt mit im Boot. Denn sie kann sich sowenig wie die Union und weniger noch als die FDP erlauben, daß das gesellschaftliche Großvorhaben Pflege an ihr scheitert. So wird der Streit wohl im Vermittlungsverfahren zwischen Bund – wo die Koalition über die Mehrheiten bestimmt – und den SPD-dominierten Ländern sein Ende finden. Obwohl die Pflegeversicherung im Katalog der umkämpften Fragen – Asyl, Bundeswehreinsätze, Lauschangriff – gar nicht vorne rangiert, entwickelt sie sich zum exemplarischen Fall für den Zustand der etablierten politischen Kräfte. Die Koalition packt ein Thema an, das neu ist, aber überfällig schon zu sozialliberaler Zeit. Sie löst es mit den gewohnten, also den alten Mitteln. Der liberale steht gegen den christlich-sozialen Ansatz, bekannt sind beide schon gut hundert Jahre: Eigenverantwortung des Bürgers kontra solidarischem Sozialversicherungsprinzip. Bevor sie nach intelligenten Synthesen überhaupt gesucht hat, entdeckt die Volkspartei in Regierungsverantwortung die Konkurrenz mit der Volkspartei in Opposition und drückt ihrem Regierungspartner das Solidarprinzip auf.
Das Publikum weiß längst nicht mehr, wer aus welchen Gründen was will
Der Lohn für die FDP, der übrigens in der Union (Abteilung Wirtschaft) nicht ungern gesehen wird: die Karenztage, mit denen immerhin die Eigenverantwortung der Arbeitnehmer im Krankheitsfall gestärkt wird. Die Lösung ist eine Scheinlösung, weil die SPD die Karenztage noch weniger als die Asylgesetze mitmachen kann. Aber es gehört wenig Phantasie dazu, sich mögliche Ergebnisse auszumalen, wenn Regierungsparteien und SPD erst einmal verhandeln. Die solidarische Pflegeversicherung wird beschlossene Sache sein, und die Arbeitnehmerschaft wird sie allein bezahlen, wenn auch nicht in Form der Karenztage.
Doch der eigentliche Clou für FDP, Unionsparteien und SPD (und zugleich der einzige mögliche Grund für ein Scheitern der Pflegeversicherung) lautet: Sie haben alle nichts davon. Denn das Publikum hat längst aus den Augen verloren, wer aus welchen Gründen was will. „Das werden wir machen, das machen wir“, verkündete Unions- Fraktionschef Wolfgang Schäuble vor knapp zwei Wochen in der Haushaltsdebatte. Die eisigen Gesichter der FDP-Minister auf der Regierungsbank tauten erst zwei Minuten später wieder auf. Denn Schäuble hatte vom großen Lauschangriff gesprochen, den die Union nach derzeitigem Stand eher mit der SPD als mit der FDP machen kann. „Darüber werden Sie keinen Keil in die Koalition hereintreiben“, fügte der strenge Vorsitzende der Unionsfraktion also vorsichtshalber an – ohne den gemeinsamen Standpunkt der Koalition erklären zu können. Denn vorerst gibt es ihn nicht. Weil SPD und Union nach Kräutern gegen die Ängste vor der organisierten Kriminalität dringlich suchen, wird der koalitionstreue Klaus Kinkel seine Partei vermutlich auf den nächsten verlorenen Posten führen.
„Immer wenn es brenzlig wird“, konterte in der gleichen Debatte SPD-Fraktionschef Hans-Ulrich Klose in Richtung Kanzler, „dann redet er von Gemeinsamkeit“. Diese Aufgabenverteilung habe seine Partei nicht so gern. Pflegeversicherung, Asyl, Innere Sicherheit, Bundeswehreinsätze sind aber nur der erste Teil eines langen Kanons von Fragen, die kaum im Gegeneinander der beiden Volksparteien zu lösen sind. Nicht Schmusekurs oder heimliche großkoalitionäre Neigungen, sondern die bittere Notwendigkeit einer Konsenssuche für die ganze Gesellschaft diktieren dem verantwortlichen Führungspersonal Themen und die politischen Verfahren. Da in den meisten Fällen nur so getan wird, als ginge es um den besseren Vorschlag, in Wahrheit jedoch nur die Konkurrenz um den geringsten Gesichtsverlust stattfindet, wächst unweigerlich die Distanz zum Wählervolk.
Helmut Kohl schreckt traditionell nicht davor zurück, die SPD im väterlichen Ton mit Bemerkungen zu traktieren, die auf ihn selbst am ehesten passen würden. „Sie haben immer noch nicht Fuß gefaßt im wiedervereinten Deutschland. Sie reden von einem Land, das es nicht gibt“, leitete der Kanzler seinen Beitrag zur Haushaltsdebatte ein. Der Rundumschlag trifft wahrscheinlich auf Regierende und Regierte zu. Die Bundesrepublk muß ihr sicher geglaubtes Gefüge umbauen. Das verängstigt und fügt den vielen Vor-Wende-Gründen für Politik- und Politikerverdrossenheit einen weiteren hinzu. So tun, als ob, damit behelfen sich die etablierten Parteien nicht erst seit 1990. Aber das wird immer weniger glaubhaft. Wie die Wählerinnen und Wähler sich über diese Art Politik ärgern, das zeigt das Hamburger Wahlergebnis wie ein Menetekel. Tissy Bruns, Bonn
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