Pflege: Weniger Feiertage statt Karenztage?

■ Bonner Koalition sucht jetzt nach Alternativen zur Finanzierung des Arbeitgeberanteils der Pflegeversicherung / Keine Gespräche mit der SPD

Bonn (taz) – Die Koalition wird nicht gesondert mit der SPD über die Pflegeversicherung verhandeln, aber nach anderen Finanzierungsmodellen suchen. Mit diesem Fazit trennte sich gestern in Bonn die Koalitionsrunde. Die Koalition werde nicht platzen, versicherte FDP-Chef Klaus Kinkel danach.

Nach der von der FDP forcierten Absage gemeinsamer Gespräche zwischen SPD und Koalition zum Thema Pflege mußten die Koalitionspartner die Wogen glätten. Die FDP, die mit ihrer Verweigerung des parteiübergreifenden Gesprächs Arbeitsminister Norbert Blüm (CDU) düpiert hatte, setzte sich beim Verfahren durch: Keine Gespräche mit der SPD außerhalb der dafür vorgesehenen parlamentarischen Bahnen. Eine ganz andere Frage ist jedoch, was zur Sache verhandelt wird, wenn die Pflegeversicherung in das Vermittlungsverfahren zwischen Bund und Ländern kommt. Denn die Bundesregierung ist nun augenscheinlich doch bereit, sich von der Karenztageregelung zu trennen. Dieser Vorschlag der Koalition sieht vor, daß die Arbeitnehmer künftig an bis zu sechs Tagen jährlich für Krankheitstage nicht bezahlt werden. Damit sollten die Kosten der Arbeitgeber für die Pflegeversicherung kompensiert werden. Für die SPD und vor allem für die Gewerkschaften, die in den fünfziger Jahren für die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall den längsten Arbeitskampf in der Geschichte der Bundesrepublik geführt haben, war die Karenztagefinanzierung der größte Stein des Anstoßes.

Wie Kanzleramtsminister Friedrich Bohl (CDU) nach der Koalitionsrunde sagte, soll nun kurzfristig nach „Lösungsalternativen“ zur Kostenkompensation gesucht werden, die bereits heute in der Koalition und in den Fraktionen der Regierungsparteien besprochen werden sollen. Seit längerem in der Diskussion ist die Streichung von zwei Feiertagen.

Der Ex-Chef der Liberalen, Otto Graf Lambsdorff, betonte, daß sich die FDP an die vereinbarten Lösungen halten würde. Freimütig wie gewohnt wies Lambsdorff darauf hin, daß der Arbeitminister vom Koalitionspaket herunter wolle. Der Kanzler sei es aber gewesen, der die Karenztage „mit aller Gewalt gegen meinen eindringlichen Rat“ gewollt habe.

Kinkel äußerte sich zuversichtlich: „In großer Ruhe“ werde man die Pflegeversicherung „wie besprochen“ auf den Weg bringen. Daß die SPD am Ende doch ein Wort mitzureden hat, wollte niemand verhehlen. Die SPD werde zu „gegebener Zeit“, wie CSU- Landesgruppen-Chef Michael Glos sagte, im Bundesrat in die Überlegungen einbezogen. Hier sind die SPD-dominierten Landesregierungen in der Mehrheit.

SPD-Sozialexperte Rudolf Dreßler betonte indessen, daß die Pflegeversicherung „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ gescheitert sei, wenn die Koalition die Karenztageregelung wieder ins Gespräch bringe. Daß „auch die Nettogehälter der Arbeitnehmer unangetastet bleiben“ müßten, verlangte der Deutsche Angestellten-Gewerkschaft (DAG). Zur Finanzierung der Pflegeversicherung solle eine allgemeine Arbeitsmarktabgabe erhoben werden. Tissy Bruns

Zehntausende gegen Karenztage

Düsseldorf (AFP) – Zum Auftakt einer bundesweiten Aktionswoche unter dem Motto „Gegenwehr für Gerechtigkeit“ haben gestern nach Gewerkschaftsangaben mehrere zehntausend Menschen gegen Sozialabbau und die Einführung von Karenztagen demonstriert. Dabei sei es vornehmlich bei Bundespost, Bundesbahn und in der Metallindustrie zu betrieblichen Protestaktionen gekommen, sagte ein DGB- Sprecher in Düsseldorf. Nach Angaben der Deutschen Postgewerkschaft (DPG) beteiligten sich allein bei der Bundespost rund 20.000 Beschäftigte an den Protesten. Auch die Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) kündigte für die kommenden Tage bundesweite Proteste während der Arbeitszeit an.