Ein geradezu faustischer Pakt mit der Gesellschaft

■ Demokratische Entscheidungsfindung zählt nicht, wenn es um Atomfragen geht, der strahlende Müll, der weltweit produziert wird, bleibt künftigen Generationen erhalten

„Wir, die Atomgemeinde, haben einen faustischen Pakt mit der Gesellschaft geschlossen. Wir bieten eine unerschöpfliche Energiequelle, aber wir verlangen dafür von der Gesellschaft eine Beherrschtheit und eine bisher nicht gekannte Langlebigkeit ihrer sozialen Institutionen.“ Alvin Weinberg, ein berühmter Atomwissenschaftler aus den Vereinigten Staaten, hat es mit Takt umschrieben, das zentrale Problem der Atomwirtschaft. Die Atomgemeinde hinterläßt uns einen strahlenden Müllberg, der für mehrere 10.000 Jahre so gefährlich ist, daß wir ihn unter allen Umständen von der Umwelt fernhalten müssen.

Aber mit welchem Recht hinterlassen wir, hinterläßt die Atomindustrie der Gegenwart kommenden Generationen diese Atommüllberge, und mit welchem Recht bürden wir bestimmten Gemeinden das Risiko auf, als Versuchskaninchen die Standfestigkeit unserer technischen Anlagen gegen das radioaktive Trommelfeuer auszuprobieren? Mit keinem! Demokratische Entscheidungen haben es so an sich, daß sie nur auf Zeit legitimiert sind. Politiker werden auf eine bestimmte Zeit gewählt. Was gewählte Politiker in dieser Legislaturperiode entscheiden, muß prinzipiell in der nächsten Legislaturperiode umkehrbar sein. Sonst kann das Wahlvolk nicht in Ruhe den Wahltermin abwarten, muß vorher einschreiten.

Was für Wahlperioden gilt, gilt selbstverständlich noch mehr für zukünftige Generationen. Thomas Jefferson, einer der Gründerväter der USA, formulierte es ganz unmißverständlich: Jede Generation kann mit Entscheidungen nur sich selber binden. Mit anderen Worten: Jede Generation muß entscheiden können, daß sie die strahlenden Entscheidungen ihrer Väter und Großväter revidieren will.

Kann sie aber nicht. Der hochradioaktive Atommüll, der in über 400 Atommeilern heute weltweit produziert wird, bleibt für Hunderte von Generationen gefährlich. Wenn die Neanderthaler solchen Müll produziert hätten, wäre er heute noch tödlich. Demokratie zählt also nicht, zumindest nicht zwischen den Generationen und nicht in Atomfragen. Das ist es, was Weinberg mit der Langlebigkeit sozialer Institutionen meint. Die Atomgemeinde hat uns in die Falle gelockt, aus der es mit demokratischen Mitteln kein Entrinnen gibt. Sie spinnt folgerichtig den Gedanken weiter. Nicht demokratische Institutionen können die gesellschaftliche Verantwortung für den Atommüll übernehmen. Eine nukleare Priesterkaste soll kommenden Generationen das Wissen über die Gefährlichkeit der strahlenden Hinterlassenschaft übermitteln.

Das legitimatorische Vakuum hat politische Konsequenzen. Nirgendwo weltweit sind demokratisch gewählte staatliche Institutionen in der Lage gewesen, einen Standort für die Endlagerung von hochradioaktivem Müll durchzusetzen, nicht einmal ein entsprechendes Genehmigungsverfahren hat begonnen. Die staatlichen Stellen sind mehr und mehr an die Staatsgrenzen und in die dünnbesiedelten Gebiete ausgewichen. Doch kommt ein Standort in die engere Wahl, formiert sich sofort entschiedener Widerstand vor Ort, der wegen des oben skizzierten Legitimationsproblems der staatlichen Stellen bislang immer obsiegt hat. Selbst im atomverliebten Frankreich mußten Standorterkundungen wegen heftiger Bürgerproteste abgebrochen werden, so Niedersachsens Umweltministerin Monika Griefahn gestern auf dem Hearing in Braunschweig.

In den USA ist die Suche nach einem Endlager 1972 in Kansas, 1975 in Michigan und 1987 in Texas gescheitert. Texanische Farmer hatten gedroht: „Unsere Vorfahren haben dieses Land und ihre Familien mit dem Gewehr geschützt. Wenn es dazu kommt, werde ich das gleiche tun.“ Der tödliche Unfall im Schacht 1 am geplanten Atomlagerstandort Gorleben im Mai 1987 wurde in Texas breit publiziert. Das gab den Plänen für ein Atommüllager im texanischen Salz den Rest. Derzeit scheitern die Pläne der US-Atombehörde im Bundesstaat Nevada. „Die Bundesregierung in Washington glaubt zwar, daß sie noch einen Standort hat, sie hat aber keinen mehr. Wir sind ihnen an der Gurgel“, erklärte Robert Loux von der Regierung des US-Bundesstaates Nevada gestern in Braunschweig. Die Behörden des Bundestaates hatten von Anfang an „militanten Widerstand“ angedroht.

Staatliche Stellen und Atomindustrie weltweit suchen derweil nach technischen Lösungen, die den widerspenstigen Souverän zur Akzeptanz der Atommüllkippe verleiten sollen. Doch das ist einfacher gesagt als getan. Technisch ausprobieren kann man die Langzeitsicherheit von Atommüllbehältern und -lagern nunmal nicht. Die Behörden können nur argumentieren, die Langzeitsicherheit des Atommüllbehälters sei plausibel, unter Berücksichtigung der ihnen bekannten Faktoren. Und der Salzstock, die geologisch sichere Gebirgsformation? Wo heute Wüste ist, kann in 50.000 Jahren ein Meer entstanden sein, wo heute Meer ist, ein Wald grünen oder ewiges Eis die Geologie verändern.

Technische Lösungen allein reichen nicht. Nicht nur Atomkraftkritiker argumentieren, daß man aus dem Atommülldilemma nicht entkommen kann. Man kann aber auch dem Atommüll nicht entkommen. Wie also läßt sich das Legitimationsproblem verringern? Man kann die Sicherheit eines möglichen Endlagers optimieren, an dieser Stelle dürfen keine Zweifel offenbleiben.

Zum zweiten ist es unabdingbar, daß der Müll begrenzt wird, ein Ende der Atommüllbelastung muß für den Standort des Endlagers absehbar sein. Nur so könne man, wie der Physiker Ernst-Ulrich von Weizsäcker gestern in seinem Eröffnungsstatement sagte, „diejenigen, die mit dem größten Horror an die Aufgabe denken, ein Endlager für zehntausend, hunderttausend oder gar eine Million Jahre sicher anzulegen, wenigstens das halbwegs beruhigende Gefühl geben, daß dieser Horror nicht mehrfach, sondern wenigstens nur einmal in unserem Land auftaucht“. H.-J. Tenhagen, Braunschweig