: „Der Wald ist unser Zuhause“
Eine Rebellion in Litauen: Seit Monaten verstecken sich Kämpfer eines Freiwilligenverbandes im Unterholz, um „gegen die Kommunisten zu kämpfen“ / Das kommt der Regierung ungelegen ■ Aus Vilnius Matthias Lüfkens
Auf einer Lichtung in einem Waldstück am Rande eines kleinen Teiches bereiten sich rund dreißig Männer in Kampfanzügen und mit Maschinengewehren im Anschlag auf die erwartete Auseinandersetzung vor. Unter einem kleinen Zelt suchen sie Schutz vor dem kalten Herbstregen und lesen die letzten Zeitungsberichte über „ihre Rebellion“. Sie verbringen ihre Zeit mit Schießübungen, mit Pilzesammeln und Kartoffelschälen. Für ein ausländisches Fernsehteam werfen sich die jüngeren Soldaten in Pose und putzen eifrig ihre Maschinengewehre. Eine andere Gruppe hat die Order, einen Schützengraben auszuheben. Es herrscht ein Gemisch aus Pfadfinder- und Lagerfeuerstimmung.
Der dreizehn Jahre alte Juozas, ein viel zu großes Maschinengewehr über der Schulter, ist mit seinem Vater in den Wald gekommen und findet das alles „ganz interessant“. Man spricht über Waffengattungen und begutachtet die Kalaschnikow mit dem Präzisionszielfernrohr, die kürzlich bei einer Anti-Mafia-Operation beschlagnahmt wurde. Die Rebellen langweilen sich.
Seit bereits zwei Monaten verstecken sich die Freiwilligen eines Verbandes aus Kaunas im Unterholz, um „gegen die Kommunisten zu kämpfen“, wie bereits ihre Vorfahren, die litauischen „Waldbrüder“, die bis spät in die fünfziger Jahre einen blutigen Guerillakrieg gegen die sowjetische Armee führten. „Der Wald ist unser Zuhause“, so der neu ernannte „Presseoffizier“ Ringaudas Kazenas. „Die Litauer haben sich in Gefahrensituationen immer im Wald versteckt“, berichtet er stolz.
Wer zu dem Versteck der Aufständischen tief im Wald gelangen möchte, kommt um eine Eskortierung nicht herum. Der Weg führt vorbei an zwei Wachposten, eine Stunde muß man auf einem kaum benutzten Waldweg warten, bis man endlich von dem Anführer Leutnant Jonas Maskvytis persönlich auf die Lichtung vorgelassen wird. Ein Kleinwagen voll von bewaffneten Soldaten pendelt vom Versteck bis in die Stadt und bringt Essen und die letzten Neuigkeiten. Die Rebellion im Wald wirkte lächerlich, wären die Männer nicht bewaffnet.
Die Revolte der Einheit N228 aus Kaunas, Litauens zweitgrößter Stadt, kommt der litauischen Regierung ziemlich ungelegen: Sie hat die Baltenrepublik nur einen Monat nach dem unerwartet problemlosen Abzug der letzen Soldaten der Roten Armee in eine schwere innenpolitische Krise gestürzt.
Die ersten fünf Freiwilligen halten sich bereits seit dem 31. Juli im Wald versteckt, erzählt der 36jährige Leutnant Jonas Maskvytis. Während des Papstbesuches in Litauen Anfang September wurde der Aufstand von den Behörden jedoch totgeschwiegen. Die Situation spitzte sich am 16. September zu, als sich weitere sechzig Freiwillige dem Protest anschlossen und mit 133 Kalaschnikows und Uzi- Maschinengewehren ihre Kaserne in der Innenstadt verließen. Nachdem die Aufständischen den Befehl des Verteidigungsministers Audrius Dutkevicius, ihre Waffen niederzulegen und in die Kasernen zurückzukehren, nicht befolgten, reichte der 32jährige Minister am Dienstag sein Rücktrittsangebot ein.
Auch der Vizeminister und Chef der 10.800 Mann starken Freiwilligenverbände, Jonas Gecas, warf das Handtuch, nachdem die Verhandlungen mit den Rebellen nicht vorankamen. Der litauische Präsident Algirdas Brazauskas bat den Minister, die Amtsgeschäfte weiterzuführen, bis die Krise gelöst sei.
Die rund sechzig Rebellen wollen weiter im Wald ausharren, bis ihre Forderungen erfüllt werden. Dabei hoffen sie, die Zerstrittenheit der litauischen Politiker ausnutzen zu können. Tatsächlich sind einige Parlamentarier in der eilig aufgestellten Parlamentskommission den Rebellen wohlgesonnen.
Die Männer im Alter von dreizehn bis sechsundsechzig Jahren präsentieren der Presse in einem verlassenen Sommerhaus eine lange Liste ihrer Forderungen. Sie wollen: „freie Fahrt auf öffentlichen Verkehrsmitteln“, eine Gehaltserhöhung für die Offiziere, Waffen und finanzielle Mittel zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens und die Erlaubnis, ihre Waffen mit nach Hause zu nehmen. Hinter den Forderungen verbirgt sich eine allgemeine Unzufriedenheit mit der derzeitigen schwierigen sozialen Lage in Litauen. „Wir haben weder moralische noch materielle Unterstützung“, so die Rebellen.
Vor drei Jahren waren die „antisowjetischen Schutzverbände“ als erste Militäreinheit der Baltenrepublik vom damaligen Parlamentspräsidenten Vytautas Landsbergis aufgestellt worden. Landesweiten Ruhm erlangten sie, weil sie das Parlamentsgebäude während der Januartage in Vilnius 1991 gegen die sowjetische Armee verteidigten, wobei vierzehn Menschen am Fernsehturm starben. Der Anführer der Rebellen, Jonas Maskvytis, hat selber zwei Monate im dritten Stock des litauischen Parlaments vor dem Büro des damaligen Parlamentspräsidenten Landsbergis Wache gestanden.
Danach hatten die Freiwilligen, die sich gerne als „wahre Patrioten“ bezeichnen, die weniger interessante Aufgabe, die Truppenbewegungen der russischen Armee zu überwachen. Seit Ende August, als die russischen Soldaten abzogen, sind sie nun arbeitslos. Und diesen Prestigeverlust verkraften die Freiwilligen, die jetzt im Schatten der regulären Armee stehen, nur schwer.
Auch gehaltsmäßig geht es den Freiwilligen schlechter als Polizisten oder Offizieren der Armee. „Ich erhalte pro Monat nur 149 Litas (rund 60 Mark)“, berichtet Maskvytis, nur ein Drittel dessen, was ein Offizier in der litauischen Armee bekommt.
In zwielichtigen Auseinandersetzungen mit der örtlichen Mafia zeichneten sich die freiwilligen Stoßtruppen außerdem durch exzessive Durchschlagskraft aus. Während einer bisher ungeklärten Anti-Mafia-Operation in Kaunas feuerte Jonas Maskvytis dreizehn Schüsse in den Wagen eines Verdächtigen. Der Staatsanwalt leitete gegen den ehemaligen Lasterfahrer eine Untersuchung ein, doch die angeblichen Mafia-Männer ließ er ziehen. „Die Staatsanwaltschaft und die Polizei sind von der Mafia korrumpiert“, empört sich Jonas Maskvytis, der sich zu Unrecht verfolgt fühlt und die Einstellung des Verfahrens fordert.
Im Kampf gegen die Mafia können die Aufständischen auf breite Zustimmung der Litauer zählen, die sich abends nicht mehr auf die Straße trauen. Allein in der vergangenen Woche wurden in der Hauptstadt Vilnius über fünfzig Wagen geklaut, ein Mann vor einem Restaurant angeschossen und ein Reisebus von bewaffneten Banditen überfallen. „Wir wollen, daß man in Litauen Handel betreiben kann, ohne Schutzgeld für die Mafia zu zahlen“, so Leutnant Maskvytis.
Der 66 Jahre alte Juozas Skarzinskas hat sich vor wenigen Tagen den Aufständischen im Wald angeschlossen, wie man an seinem Stoppelbart erkennen kann. „Wir wollen gegen die Mafia kämpfen“, sagt der hagere alte Mann, der 1944 unter dem Decknamen „Elefant“ drei Jahre als „Waldbruder“ gegen die Sowjetarmee kämpfte, bis er gefangengenommen und für 25 Jahre in Arbeitslager nach Sibirien verbannt wurde.
„Die Geschichte wiederholt sich“, so Jonas Maskvytis. „Die Kommunisten sind an der Macht, und wir sind im Wald.“ Die Rebellen haben handfeste politische Forderungen. Am liebsten würden sie den Rücktritt der ehemaligen Kommunisten sehen, die vor einem Jahr in freien Wahlen die absolute Mehrheit erlangten. Auf die Frage, ob er bereits Kontakte mit seinem ehemaligen Mentor Vytautas Landsbergis habe, meinte der schnauzbärtige, stämmige Mann, es sei ein Treffen geplant, ohne jedoch ein Datum zu geben. „Wir wissen, daß Landsbergis uns ein Aufgeben nahelegen wird, aber wir wollen ihn an unserer Spitze sehen“, so Maskvytis. „Dies ist eine gut geplante politische Aktion“, kritisierte Audrius Butkevicius, der seit über zwei Jahren als Verteidigungsminister fungierte und lange mit den Aufständischen verhandelte. „Natürlich ist unsere Aktion politisch“, erklärt Leutnant Maskvytis. „Wir sind die einzige fähige Kampftruppe in Litauen“, behauptet er stolz, „die reguläre Armee wird weiter von ehemaligen sowjetischen Offizieren geleitet.“
In vielen Bereichen können die Aufständischen auch unter rechtsradikalen litauischen Politikern auf Unterstützung zählen. So meinte ein Politiker, die Rebellen hätten gar nichts Verbotenes getan, als sie ihre Waffen mit in den Wald nahmen. „Diese Männer sind keine Kriminellen“, so der rechtsradikale Politiker Algirdas Patackas, der mit den Aufständischen im Einklang behauptet: „Ein Mann ohne Waffe ist kein Mann, vor allem wenn er Freiwilliger ist.“
Auch der derzeitige Oppositionspolitiker Vytautas Landsbergis meinte in einer Pressekonferenz, man solle die Lage nicht zuspitzen, sondern den Freiwilligen mehr Spielraum im Kampf gegen das organisierte Verbrechen lassen, denn, so der ehemalige Parlamentsvorsitzende, eine unstabile Lage in Litauen könne Rußland einen „Vorwand für eine erneute Invasion geben“.
Die litauische Regierung hat nur wenige Mittel, um gegen die Aufständischen vorzugehen. Einen bewaffneten Konflikt wollen beide Seiten ausschließen. „Wir werden nicht den ersten Schuß abfeuern“, beschwichtigt Rimgaudas Kazenas. Auch die Regierungsvertreter haben ein militärisches Vorgehen verworfen. Der Verteidigungsminister will die zermürbende Verhandlungstaktik im Wald weiterführen. Einige der jüngeren Freiwilligen zeigen bereits erste Anzeichen eines Aufgebens und lassen erkennen, daß sie bei den kühlen herbstlichen Temperaturen lieber wieder nach Hause und zur Arbeit gehen würden. Doch sie fürchten, später als Schwächlinge dazustehen.
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