Marathon leicht abgespeckt

■ Der internationale Berlin-Marathon feiert am 26. September sein 20jähriges Bestehen / 16.500 LäuferInnen aus 71 Nationen gehen am Sonntag an den Start

Nach Feiern ist Horst Milde nicht zumute. „Sie wissen, daß wir dieses Jahr finanziell zu knabbern haben“, meint der Cheforganisator des Berlin-Marathons vor der 20. Auflage dieses bekanntesten Straßenrennens Deutschlands. Statt drei Millionen Mark wie im Vorjahr steht dem Veranstalter 1993 „nur“ noch ein Etat in Höhe von 2,2 Millionen zur Verfügung. Schuld daran ist der letztjährige Hauptsponsor Canon, der bereits im Frühsommer abgesprungen war. Ein adäquater Ersatz ließ sich nicht ohne weiteres finden. Also sprang die Berliner Olympia GmbH ein, die dem drittgrößten Jogging-Spektakel der Welt (nach New York und London) einen Sponsorenpool besorgte. Was blieb den Olympiern auch anderes übrig? Ein abgesagtes Berlin-Marathon – welch eine Blamage! – hätte die Chancen der Hauptstadt bei der Olympia-Kür in Monte Carlo von vornherein ins Bodenlose sinken lassen.

So durften Milde, Kopp & Co. vom Organisationsbüro erst einmal erleichtert durchatmen, bevor sie sich an die eigentliche Sisyphusarbeit machten. Meldungen von rund 16.500 LangstrecklerInnen (darunter rund elf Prozent Frauen) aus 71 Nationen waren bis Mitte September beim Veranstalter in Moabit eingegangen. „Mit dieser großen Zahl haben wir nicht gerechnet“, gesteht Horst Milde. Die Billigversion des Berlin-Marathons 93 ist für die Stadt trotz alledem ein finanzieller Erfolg. Erfahrungsgemäß bringt jede Läuferin eine nichtlaufende Begleitung mit, die – summa summarum – ungefähr 12 bis 18 Millionen Mark an der Spree lassen.

Für die Siegprämien kommen indessen nur wenige in Frage. „Es ist uns trotz des Sparkurses gelungen, ein Spitzenfeld nach Berlin zu holen“, verspricht Christoph Kopp, der „Leistungsreferent“ des Berliner Mammut-Lauftreffs. Bei den Männern rennt der Vorjahresmeister und Weltbeste von 1992, David Tsebe (Südafrika), gegen den Ranglistenzweiten Ibrahim Hussein, sofern die Zahnschmerzen des Kenianers rechtzeitig abklingen. Bei den Frauen rütteln gleich mehrere Athletinnen am Thron der Polin Renata Kokowska, die zuletzt 1991 als erste über die Ziellinie lief. Den Ausgang des Wettbewerbs könnten allerdings unsportliche Saboteure beeinflussen. Ähnlich wie 1992, als Farbeimer von den Schöneberger Yorckbrücken auf die Piste flogen, rechnet die Polizei auch 1993 mit Störaktionen. „Eine Entwicklung“, unkt ein Polizeisprecher, „die Sportveranstaltungen immer mehr zu Polizeieinsätzen werden läßt.“ 800 Polizisten halten sich am Sonntag bereit. Mobile Einsatzkräfte stehen entlang der Strecke „Gewehr bei Fuß“.

Die eigentlichen Top-Leute starten in der Behindertenklasse. 192 Meldungen, davon 21 Zusagen von Frauen, sind beim Moabiter Marathonbüro eingegangen. Allen voran der Schweizer Rollstuhlfahrer und Vorjahresbeste Heinz Frei, der mit 1:27 Stunden über 42,195 Kilometer eine unwahrscheinliche Weltbestzeit aufgestellt hat. Im Behindertensport stehen die Zeichen eindeutig auf Sturm. Noch 1991, beim ersten „Rolli“-Marathon in Berlin, siegte der Österreicher Georg Freund in vergleichsweise schlappen 2:08 Stunden; bei den Frauen lag die letztjährige Siegeszeit der Niederländerin Connie Hansen (1:42 Stunden) gar um 70 Minuten (!) unter der Bestzeit von 1981!

„Sicher haben das Material, Werkstoff und Konstruktion des tracks für die heutigen Leistungen eine nicht zu unterschätzende Bedeutung“, erklärt Heinz Frei, der Ausnahmekönner auf zwei Rädern. Die tracks der Cracks haben nichts mehr gemein mit den Rollstühlen von „normalen“ Behinderten. „Wenn ich in den Rollstuhl hinein- und wieder herauskomme“, lautet ein Insider-Bonmot, „dann habe ich es geschafft. Den Marathon packe ich problemlos.“ Keine Frage, mit diesem geometrisch gestylten High-Tech-Geschoß aus hyperleichter Carbonfaser, seinem engen Cockpit und den schräggestellten Rädern, die man unterwegs nur noch „schlägt“ und kaum noch „greift“, radelt man nicht zum Feierabendbier in die Stammkneipe.

Hinzu kommt in den „Schadensklassen“ der absolute Wille zu Top-Zeiten. „Wir treiben Sport, weil und nicht obwohl wir behindert sind“, macht der Köpenicker „Tracker“ Reiner Pilz ein neues Selbstbewußtsein unter behinderten AthletInnen aus: „Die Erfolge bei den Paralympics haben uns internationale Anerkennung verschafft. In der Methodik und der Sportmedizin läuft das Training längst analog zur Spitzenklasse der Fußgänger ab.“

Leistung, Leistung über alles! Auch die Breitensportler brannten in der heißen Vorbereitungsphase vor Ehrgeiz. Auf ihren Übungsstrecken bildeten sich regelrechte Pfützen aus Blut, Schweiß und Tränen. Schließlich will man nicht im „Besenwagen“ landen, dem Schlußfahrzeug der Marathon-Karawane, der die Schwachen und Beladenen einsammelt. Marathon ist Hochleistungssport – ganz gleich, in welcher Leistungsklasse. Dies weiß auch Willi Heepe, der Berliner „Marathon-Arzt“. Heepe, selbst ein Mitläufer, graut es vor der grauen Masse in Rennschuhen: „Es gibt immer noch viele Starter, die noch nie beim Sportarzt waren!“

Der Tod läuft mit, befürchtet die AOK, die zwei bis vier Prozent Tote im Berliner Joggerheer voraussagt. Bei 16.500 StarterInnen würden 330 bis 660 (!) Leichen die Berliner Marathonstrecke pflastern, wenn es nach der AOK ginge. „Dann hätte Grieneisen ja Hochkonjunktur“, weist Rennarzt Dr. Heepe solche Horrorrechnungen strikt zurück. Zwar seien Todesfälle am Sonntag „gemäß allgemeiner statistischer Erwartung“ durchaus möglich, doch schätzt Heepe das „Risiko Marathon“ nicht höher ein als die Lebensgefahr unter normalsterblichen Schmerbäuchen.

Lassen wir uns überraschen, wer morgen öfter zum Einsatz kommt: die Abschleppdienste, die bereits ab Samstag abend falsch geparkte Fahrzeuge entsorgen, oder die Totengräber, die – wie zu erfahren war – keinen speziellen Notdienstplan für den Berlin-Marathon aufgestellt haben. Jürgen Schulz