Von Zeit zu Zeit

■ Die Kurzfilmnacht, Samstag, Südwest und West 3, 0.15 Uhr

Sie nehmen kaum Platz weg und passen nirgendwo rein. Sie sind billig, mal schräg, mal solide und in jedem Fall kurzweilig. Es gibt sie in Mengen, aber sie sind selten zu sehen, weder im Kino noch im Fernsehen. So fristen sie ein Schattendasein am Rand der abendfüllenden Produktionen, auf den Oberhausener Filmtagen und anderen Festivals: Kurzfilme. Mittlerweile haben sie kaum eine Chance, aber SWF und WDR wollen sie nutzen, heute nacht, wenn die Uhren umgestellt werden. Dreizehn Kurzfilme ab 0.15 Uhr – ein Midnight- Special im Dritten.

SWF-Redakteur Christian Granderath versteht die ungewöhnliche Maßnahme in der Tradition des „Rock-Palastes“, als man die Zeitenwende mit Bier, Joint und den Grateful Dead beging. Aber es geht der Redaktion um mehr als nur ein Angebot für nachtschwärmende Programm- Surfer. Granderath: „Es gibt keinen ausgewiesenen Platz für Kurzfilme im Fernsehen.“ Wobei das Problem bei den Programm-Machern zu suchen sei und keineswegs beim Publikum. Die Unterscheidung zwischen Konventionellem und ästhetischem Neuland dominiere mehr das Denken der TV- Gewaltigen als die Sehgewohnheiten der Zuschauer. So verbindet sich mit dem Midnight-Special auch die Hoffnung, für das Genre zu werben und Kurzfilmreihen in Zukunft zwei-, dreimal im Jahr zeigen zu können. Vielleicht sogar zu besseren Sendezeiten. Last but not least bietet die Mitternachtsshow eine Chance für Debütanten. Die meisten Produktionen stammen von Studenten der Filmhochschule München, der Berliner DFFB und der Stuttgarter Kunstakademie. Viele davon sind Nachtgeschichten, nicht wenige Genre-Studien.

Zum Beispiel „Mein letzter Fall“ von Luke McBain. Ein Kopierladen-Angestellter versucht sich als „Singing Detective“, träumt vom Erfolg im Musikbusiness und kommt ums Leben. Ein Minikrimi in Film-Noir-Tradition, aufgepeppt mit Video-Ästhetik und raunender Off-Stimme. Ein Plagiat, weiter nichts. „Kopieren hat Zukunft“, beteuert der Held. Daß auch der Protagonist in „Von Zeit zu Zeit“ (Regie: Michael Gutmann) mit dem unglücklichen Namen Helmut Kohl im Copy-Shop arbeitet, ist kaum Zufall.

Nicht jede Nachahmung ist gelungen: Dilettantisches wechselt mit gekonnter Improvisation, Kunstkino mit Groteske, Lautstarkes mit leisen Tönen. Vergleicht man die Jungfilmer von heute mit den Anfängen des deutschen Autorenkinos, fällt auf, daß die Vorbilder sich kaum geändert haben: Expressionistisches, Roadmovie, Krimi-Genre. Ob Minithriller („Klinik des Grauens“ von Rainer Matsutani), Zeichentrick („Ein schöner Abend“ von C. M. Rohne), Pamphlet („Bravo Papa 2040“, ein Anti-Tiefflieger-Manifest von Susanne Fraenzel) oder Szene-Komödie („Salz für das Leben“ mit Thomas Heinze) – der Unterschied liegt weniger im Handwerklichen, als darin, daß den Übungen von Wenders und Konsorten der suchende Gestus anzusehen war. Die Bilder machten aus ihrer Ratlosigkeit keinen Hehl, sie lebten von der Schwierigkeit, Geschichten zu erzählen. Die von heute kommen kaum ins Stocken. Das macht etliche Kurzfilme prätentiös, überfrachtet, geschwätzig: der Debütant als Gernegroß. Nicht wenige Helden sind kleine Jungs.

Es gibt Ausnahmen, „Frankie“ zum Beispiel. Auch ein kleiner Junge, allein zu Haus. Er vermißt seine Mutter, hält sich an den Stöckelschuhen fest, zieht ihren BH an. Schwarzweiß, acht Minuten, ohne Worte. Eine atmosphärisch dichte Kamerastudie von Harry Patramanis, spannender als die Kurzkrimis der Kollegen. Oder „Zug“ von Christian Wagner („Wallers letzter Gang“), ein Stummfilm über stillgelegte Eisenbahnstrecken im Allgäu. Schilder rosten, Schienen werden beseitigt, Schwellen verladen. Vertrautes in befremdlichen Bildern von Kameramann Thomas Mauch. Oder „Nachts“ von Maris Pfeiffer, wieder schwarzweiß. Ein bettelnder Krüppel (Peter Radtke) flieht vor einem Unbekannten. Hallende Schritte, lange Schatten, Kopfsteinpflaster – man kennt das. Aber was sich zunächst wie eine Mischung aus „Eine Stadt sucht einen Mörder“ und engagierter Sozialkritik ausnimmt, mündet in ein irritierendes Gespräch. Der Unbekannte stellt dem Krüppel genau die Fragen, die sonst keiner zu stellen wagt: „Wie pißt du eigentlich? Und scheißen? Frauen?“ Ein kurzer Versuch über Angst und Ressentiment: sieben Minuten.

Entstanden ist das Midnight- Special aus der SWF-Reihe „Debüt im Dritten“, in deren Rahmen bereits Grönings „Terroristen“ und Dresens „Stilles Land“ gezeigt wurden. 1992 hatte der SWF einige der Kurzfilme bereits in Kombination mit den Spielfilmen ausgestrahlt, jetzt wurden sie gemeinsam mit West 3 (Redaktion: Gebhard Henke) für die nächtliche Session abgekoppelt. Teils hatte man nach Sichtung in Hochschulen und auf Festivals Lizenzen erworben (die bald ablaufen), teils auch Koproduktionsgelder aufgebracht. So entstanden sechs Kurzfilme der Berliner Film- und Fernsehakademie mit Hilfe des SWF. Bei der Zusammenarbeit mußte zwar der Spagat zwischen TV-Sendekorsett und studentischem Freiheitsdrang bewerkstelligt werden, trotzdem hofft Granderath auf Fortsetzung. Das Anspruchsvolle muß raus aus der Nische: „Wir wollen kein Programm für die happy few machen.“

Der blinde Fleck der Kurzfilmnacht ist die deutsche Gegenwart. Kaum eines der Minutenstücke bezieht sich auf die aktuelle Lage der Nation, die meisten Filmemacher sind mit sich selbst beschäftigt. Eine Schwäche, die die Kurzfilme mit dem deutschen Kino gemeinsam haben, das erst neuerdings, mit Regisseuren von Detlev Buck bis Christoph Schlingensief, ein Auge auf die Gegenwart wirft. Daß das einzige kleine Meisterwerk heute nacht von einem lettischen Regisseur stammt und sich durch zeitlose Schönheit auszeichnet, registriert man deshalb mit gemischten Gefühlen. „Zehn Minuten älter“ von Herz Frank beobachtet Kinder im Puppentheater. Ein Stummfilm mit Musik, schwarzweiß. Zwei, drei Gesichter nur, die von all dem erzählen, wonach man sich beim Filmegucken sehnt: von der Erwartung und der Entdeckung, vom Fürchten und vom Glück. Christiane Peitz