Gute Kondition und Trittsicherheit

Alpin kraxeln durch viel Natur und Tourismusrummel  ■ Von Christian Füller und Christoph Hamann

Die Dichter durchquerten die Alpen auf ihren italienischen Reisen in der Kutsche. „Nur dann und wann durfte ich den Kopf zum Wagen hinausstrecken“, notierte Heinrich Heine 1828, bedrückt von Gemüts- und Wetterschwankungen. Er schaute – was Wunder – „himmelhohe Berge, die mich ernsthaft ansahen und mir eine fröhliche Reise zunickten“. Goethe, unterwegs in den Bergen, fehlten beinahe die Worte. Eine neue Welt gehe ihm auf, „da hilft kein Beschreiben“. Auch er rollte durch die Alpen, und das in höchster Eile. „Die Postillions fuhren, daß einem Sehen und Hören verging“, schrieb er, gerade über den Brenner, auf seiner italienischen Reise. Für JWG, den Vorfahren automobiler Touristen, waren die Alpen nur der Weg zum Ziel seiner Wünsche: Italien.

Die Schönheit und Kraft der Berge zu erleben, während man die Alpen durchfährt, das ist heute noch viel weniger möglich. Da reicht's nicht, im Stau – wie Heine anno dazumal – „den Kopf zum Wagen hinauszustrecken“. Wirklich erfahren kann man die Alpen, wenn man sie sich erläuft. Das Wandern im Hochgebirge als die Verwirklichung des Prinzips „Der Weg ist das Ziel“. Zum Beispiel auf dem Europawanderweg Nr. 5.

Die verschiedenen Europäischen Fernwanderwege ermöglichen es, über größere Strecken hinweg Landschaften zu Fuß zu erleben. Der Europawanderweg Nr. 5 (E5) schlängelt sich sechshundert Kilometer lang von Konstanz (Bodensee) nach Venedig. Für die alpinen Wanderer bietet sich in erster Linie das Teilstück zwischen Sonthofen im Allgäu und Meran an. Auf mehr als 200 Kilometern Weg durch die Allgäuer, Lechtaler und Ötztaler Alpen gilt es, eine ganze Reihe von Bergen und Pässen zu erklimmen. Gute Kondition und Trittsicherheit sind erforderlich. Für die Übernachtungen stehen auf den Höhen Hütten bereit, die meist der Alpenverein unterhält. In den Tälern kann das Zelt aufgeschlagen oder ein Gasthof aufgesucht werden. Dem Bergerfahrenen sei empfohlen, außer einem E5-Tourenbuch gute Wanderkarten un verschiedenen Maßstäben mitzunehmen.

Denn wer sich zu eng an die E5- Route hält, dem kann das Natur- und Selbsterlebnis leicht verdorben werden. Der Fernwanderweg ist teilweise übervölkert. Und weil sich alle grüßen am Berg, kommt man gar nicht mehr zum Erleben, Schauen, Sinnieren vor lauter „grüß Gott“. So umgeht man am besten die ausgetretenen Pfade und Massenunterkünfte. Ob in den Allgäuer Alpen der Hochvogel oder die Parseier Spitze im Lechtal mit über 3.000 Meter Höhe – ein vielleicht manchmal unbequemer Umweg für die Aussicht lohnt sich in jedem Fall.

Eine Alternative bietet sich gleich zu Anfang der Tour: Beginn ist nicht in Sonthofen, sondern im Tannheimer Tal; von dort führt der Weg über die Landsberger Hütte (mit oder ohne Übernachtung) zum Prinz-Luitpold-Haus. Von der Terrasse des murrig bedienten Luitpold-Hauses auf 1.846 Meter Höhe kann man sich ihn dann anschauen, den Hochvogel, und entscheiden, ob er zu packen wäre. 2.598 Meter ragt er auf, beinahe verdeckt von einem Felsmassiv. Nur die Spitze ist zu sehen.

Nicht für alle freilich. Drei-, viermal rennt eine Alpentouristin auf die Luitpold-Terrasse, hat einen Experten dabei und die Postkarte in der Hand, die sie stirnrunzelnd vor die wolkenverhangene Gipfelkette hält. Ein klein wenig beklommen sehen wir mit hinauf zum Hochvogel, den wir anderntags besteigen wollen.

Früh um halb sechs also heraus aus den Betten. Zunächst geht es über ein Wiesenstück, das mit Fels und Stein gespickt ist. Ein paarmal durchwaten wir den Bach, bis wir den Abzweig erreichen: Kreuzweg oder Balkenscharte? Wer den um die 15 Kilogramm schweren Rucksack am Buckel hat, wird sich für die Scharte entscheiden. Aber auch da geht es sakrisch steil hinauf. Auf alle viere zwingt einen das im Schatten gelegene Stück; die morgendliche Sonne bleibt am Grat oben hängen, von dem aus wir noch mal das arg geschrumpfte Luitpold-Haus sehen können.

Am nächsten Grat lassen wir die Rucksäcke stehen. Wir durchqueren eine Geröllpiste und stoßen auf ein Schneefeld. Das ist so steil, und die eingetretenen Stufen sind so abschüssig, daß es ein bißchen gurgelt in der Magengegend, während man „die Treppen“ hinaufsteigt. Den Blick hinunter sparen wir uns. Der macht nicht mutiger. Die letzten 200 Höhenmeter sind kein Problem mehr. Leichtfüßig, fast federnd geht es auf eingehauenem, schmalem Weg um ein Felsmassiv herum. Später ein Stück, auf dem wir über große Felsblöcke klettern, oder sollte man besser kraxeln sagen? Bergsteiger würden toben, wenn man's klettern nennen würde.

Um neun Uhr stehen wir oben. Drei haben sich an diesem Tag bereits ins Gipfelbuch eingetragen. Sie genießen die Ruhe und den Ausblick; sehen etwas mürrisch hinunter, wo diejenigen kommen, die erst nach dem Frühstück aufbrachen. Der Abstieg nach Hinterhornbach zeigt, daß das Bergwandern zwei Seiten hat. Auf den Ziehwegen und noch auf stattlicher Höhe schauen wir weit in die herrliche Gebirgslandschaft. Der Schatten des Bergmassivs spendet angenehme Kühle; die Gedanken beginnen zu schweifen. Ganz anders ist es nach einer Pause, wie bei so vielen Abstiegen auf dieser E5- Tour: Fast drei Stunden gehen wir durch quälende Hitze; unsere Gelenke beginnen zu schmerzen, an den Füßen spürt man erste Blasen. Auch die wiedereinsetzende Vegetation, die Bäume, Sträucher, Blüten, bringen einen nicht auf andere, fröhlichere Gedanken. Ob das Ziel nicht doch eher das Ziel ist und nicht der Weg?

Der Anblick fortschreitender Naturzerstörung durch den Menschen schmälert das Erlebnis am Berg. Wer unter Bergwandern das Gehen durch „freie“ und „unberührte“ Natur versteht, wird bald eines Besseren belehrt werden. Auf dem Weg liegender Abfall ist nur der kleinere Teil des Übels einer gezähmten und verbauten Natur. Paradebeispiele dafür sind das Pitztal oder das Ötztal, die die E5- Wanderer auf ihrem Marsch nach Italien durchqueren. Auf dem Weg durch das Pitztal wundert man sich über die rege Bautätigkeit, von der jedes Dörflein ergriffen scheint. Überall ragen Kräne in die Höhe, auf rustikal getrimmte Ferienhotels sprießen wie die Pilze aus dem Boden. Die Ursache dafür ist leicht zu finden: In Mittelberg, der hintersten Ortschaft im Pitztal, wo vor dem steilen Aufstieg auf die Braunschweiger Hütte eine kurze Rast eingelegt werden kann, wurde vor wenigen Jahren der „Pitz-Express“ eingeweiht. Um die Gletschermassen der Wildspitze auch für die Pitztaler TouristInnen zugänglich zu machen, wurde diese (schilling)milliardenteure Bahn durch den Berg gebohrt – gegen den Protest von Naturschützern und vielen Einheimischen. Jetzt braucht auch hier der Ski im Sommer nicht mehr eingepackt zu werden. Die einen freut's, die anderen müssen ihren Blick an Seilbahnmasten, Bodenerosion und Hotelsilos gewöhnen: Natur als Großbaustelle.

Im gegenüberliegenden Ötztal ist die Verbauung und Verschandelung der Alpen auf die Spitze getrieben. Von der Braunschweiger Hütte gelangt man dorthin über das Pitztaler Jöchl – mit 2.995 Metern der höchste Punkt der E5- Route. Während wir das Jöchl hinaufschwitzten, saßen oben Dutzende von Menschen – wie die Hühner auf der Stange. Kein Wunder! Oben angekommen, sahen wir hinunter auf den Ötztaler Gletscherparkplatz, 2.800 Meter hoch gelegen, Mittelpunkt von Pisten und Liften. Da heißt's: Augen zu und durch!

Wer den E5 läuft, muß dies in Kauf nehmen. Der Anblick zerstörter und vermarkteter Natur gehört zu diesem Weg wie das Erleben von Fernsichten, das Gewicht des Rucksacks, die Launen des Wetters. Und eine Alternative bleibt dieser Weg für Leute, die Lust am Wandern haben, für gefrustete AutofahrerInnen oder aus der Stadt Flüchtende. Auch ihnen wird es in einem Tal oder auf einem Gipfel gehen wie Goethe: „Da hilft kein Beschreiben.“