Beim Namen nennen: Deutsche Türken

■ Nach Mölln und Solingen: Ein zweisprachiges Buch versucht sich nicht erneut in Klage, sondern markiert den notwendigen Versuch eines politischen Diskurses

Definitionen sind in gewissem Sinne auch immer gesellschaftliche Diagnosen. Der Definitionsmacht der einen steht die Selbstdefinition, die Identitätsbildung der anderen gegenüber. „Fremder“, „Gastarbeiter“, „lieber Mit-Bürger“ sind Ergebnisse angewandter Definitionsmacht, die über Jahrzehnte eine gesellschaftliche Situation festschrieben, auch wenn diese mit dem Selbstverständnis der Betroffenen längst nicht mehr übereinstimmte.

Es gibt zwar Nachbarn, die sich ein Leben lang fremd bleiben. Dennoch kommt es in jeder Nachbarschaft über kurz oder lang zu einer akzeptierten Koexistenz, die den Begriff „Fremder“ nach gewisser Zeit ad absurdum führt. Genauso wird jeder unbefangene Mit- Mensch ohne größere intellektuelle Anstrengungen zu dem Ergebnis kommen, daß die Definition „Gast“ eine zeitlich befristete Perspektive voraussetzt. Einen Gast über fünf, zehn oder gar zwanzig Jahre wird niemand beherbergen – da gehört der/die Betreffende entweder längst zur Familie oder wurde hinausgeworfen. Auch mit den „Bürgern“ ist es so eine Sache: Entweder wir sind alle Mit-Bürger, oder jeder ist Bürger des Landes. Warum es aber Bürger und Mit- Bürger geben soll, ist aus der Bedeutung des Begriffs nur schwer ersichtlich.

Tatsächlich spiegelt die Geschichte dieser Definitionen auch nichts anderes als eine gesellschaftliche Schizophrenie wider, vermittels derer verdrängt wurde, was doch offensichtlich war. Zwanzig Jahre lang wurde vergeblich dagegen argumentiert. Die vermeintlichen Gastarbeiter waren de facto und nach eigenem Verständnis längst Einwanderer geworden. Doch die herrschende Politik, und in ihrem Schlepptau auch die Massenmedien, war nicht geneigt, Fiktion gegen Realität zu tauschen. Erst der Schock von Mölln und Solingen brachte den Einbruch, legte die Bewußtseinsspaltung endgültig offen.

Das Buch „Deutsche Türken“ zeigt den Wunsch, diesen Augenblick des Zusammenbruchs einer Fiktion zu nutzen, um die real existierenden Alternativen der deutschen Gesellschaft vorzustellen und zu diskutieren. Mit dem von Claus Leggewie und Zafer Senoçak herausgegebenen Sammelband wird versucht, das bislang herrschende Definitionsmonopol von oben zu brechen und einen Begriff durchzusetzen, der einen gesellschaftlich möglichen, aber noch nicht erreichten Zustand beschreibt: Deutsche Türken. Vor allem Ertugrul Uzun, Vorsitzender der Europäischen Assoziation türkischer Akademiker, beschreibt in seinem Beitrag „Gastarbeiter – Immigranten – Minderheit“ den Identitätswandel der Türken in Deutschland wie auch die Möglichkeiten, die sich für die deutsche Gesellschaft hieraus ergeben. Entgegen dem lange gepflegten Vorurteil von den integrationsunwilligen Türken ist die ganz überwiegende Mehrheit der türkischen Einwanderer durchaus bereit, sich mit einer deutschen Gesellschaft zu identifizieren – wenn man sie nur läßt. Es gibt die Alternative zwischen einer offenen Gesellschaft, die unterschiedlichen Ethnien die Möglichkeit gibt, sich positiv zu ihr zu verhalten, oder aber einer ethnisch geschlossenen Gesellschaft, die Minderheiten innerhalb ihrer Grenzen anerkennen muß. Uzun vergleicht US-amerikanische Erfahrungen über die gesellschaftliche Einbindung unterschiedlicher Ethnien mit der deutschen Haltung und legt so, auch angesichts aller objektiven Unterschiede, verpaßte Chancen offen.

Das Buch besteht aus einem heftigen Plädoyer für die offene Gesellschaft (Hakki Keskin), einer Programmplattform (Claus Leggewies Zehn Gebote für das deutsch- türkische Verhältnis) und der Beschreibung einer Realität, die häufig erst nach Solingen von den deutschen Massenmedien entdeckt wurde. In Beiträgen über türkische Jugendbanden, Immigrantenkinder in der Schule und die Schwierigkeiten vom Altwerden in einem ungastlichen Land halten sich die AutorInnen nicht länger damit auf, Ignoranz zu beklagen, sondern nutzen den Zeitpunkt, Informationsbedürfnisse zu befriedigen.

Das Buch ist zugleich, wie die Herausgeber sagen, „eine Premiere“. Premiere deshalb, weil erstmals ein großer Verlag in seinem „normalen“ Programm ein Buch zweisprachig druckt. Damit soll auch eine praktische Antwort auf Mölln und Solingen gegeben werden – eine Antwort, die helfen will, einen politischen Neuanfang zu machen. Jürgen Gottschlich

„Deutsche Türken – Türk Almanlar“. rororo-aktuell, 256 Seiten, 14,80 DM