In der Gegenwart angekommen?

Cora Stephans „politische Sittengeschichte“ 68 bis 89 beschäftigt sich in erster Linie mit dem Feindbild „Linke“, der sie Geringschätzung demokratischer Institutionen vorwirft  ■ Von Michael Rediske

Die Linke ist nur noch für eins gut: den Gegner abzugeben. Das Resümee hatte uns Cora Stephan schon zu Jahresbeginn in der FAZ- Serie „What's left?“ offeriert. Insofern bietet ihr neues Buch, als „Bilanz politischer Orientierungssuche“ in der Zeitspanne zwischen 1968 und 1989 angekündigt, wenig Überraschendes. Ihre einzelnen Thesen sind nicht neu: etwa ihre Kritik an der „Tyrannei der Intimität“, die sie dem gleichnamigen Buch des amerikanischen Soziologen Richard Sennett entnimmt. Die Gesprächs- und Verhaltensmuster der neuen „nachdenklichen Politiker“ zielten, so beschreibt sie es, mit ihrer weiblichen Bindungs- und Intimitätssprache auf Symbiose, auf Gemeinschaft. Man fragt sich, ob tatsächlich jemand so redet. Die Friedensbewegung während des Golfkrieges? Das mag ja noch angehen. Die Autorin meint aber auch die Politiker der „Toskana-Fraktion“; zum Beispiel Björn Engholm, der doch angekündigt habe, daß er „auch mal die Pflicht Pflicht sein lasse, des nachdenklichen Spaziergangs durch irgendeine schöne meerumschlungene Landschaft wegen“.

Cora Stephan suggeriert, die SPD habe ihre proletarischen Stammwähler deshalb enttäuschen müssen, weil sie mit Engholm und dem „undurchsichtigen Genießer Oskar Lafontaine“ keinen Zugang mehr zu ihnen finden konnte. Wie meist bei Stephans Thesen wird die Leserschaft über brillante Formulierungen und ein kurzzeitiges Aha-Erlebnis angezogen, wartet dann aber vergeblich auf eine Verknüpfung mit der Analyse. Daß sich die Probleme der SPD mit dem immer heterogener werdenden Wählerpotential allein auf die Sozialisation der „Toskana-Fraktion“ reduzieren ließen, ist jedenfalls zu simpel. Aber die Polemik ist Methode dieses Buches, das aus einzelnen Essays zusammengebastelt scheint, wobei die Autorin ihre Thesen diesmal unter dem Stichwort der „Betroffenheitskultur“ subsumiert.

Wenn die Politik die Problemlage nach der deutschen Vereinigung nicht zur Kenntnis nehmen will, dann liegt das für Cora Stephan eben daran, daß „die Ware politische Führung“ in den hedonischen 80ern nicht sonderlich nachgefragt war; daß man sich zu lange über das „Zurückwachsen der Politik in die Gesellschaft“ (so beschrieben von Enzensberger) gefreut habe. Es liege am Dogma der Post-68er, alles Private sei politisch: „Fortan standen hierarchische Entscheidungsstrukturen, Sekundärtugenden und die Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit unter Verdacht — insgesamt.“ Zu Recht, sollte auch heute noch die Antwort lauten, denn deren Grenzen müssen ständig ausgehandelt werden. Eines stimmt allerdings: „Die Forderung nach dem allseits wissenden und engagierten Bürger, ohne auch nach der Überforderung des einzelnen zu fragen“, führte nicht zuletzt auch die Grünen in Sackgassen. Aber warum darf deshalb an denen, die doch die verknöcherte Nachkriegskultur aufbrachen, kein gutes Haar gelassen werden?

Stephans Antwort: weil die „Verachtung der demokratischen Formen“ sich wie ein roter Faden von den durchaus intoleranten Organisationen 68 ff. bis hin zu denen ziehe, die heute plebiszitäre Elemente in die Verfassung aufnehmen wollen. Diesen Vorwurf, die „Demokratie mit ihrem strengen Regelwerk“ geringzuschätzen, streut sie breit in die Runde: von Honecker und seinem antifaschistischen Kampf „auch gegen das, was ,formal‘ Demokratie ist“, bis zum „Werterelativismus“ Lafontaines, der 1987 über Honecker sagte: „Es hat wenig Sinn, ihn immer wieder mit unseren Überzeugungen herauszufordern. Es sind nicht die seinen.“

Weiter geht der Rundumschlag mit der Antiatombewegung, die der Bundestagsmehrheit die Legitimation absprach, über etwas so Gemeingefährliches wie das AKW-Programm zu beschließen; mit der Friedensbewegung, die in der Stationierungsdebatte einen Volksentscheid forderte. Und auch diejenigen geraten unter antidemokratischen Verdacht, die bei der Aufdeckung von Politikerskandalen — ob Streibl, Krause oder Lafontaine — „saubermännischen Eifer“ zeigen. Cora Stephan befürchtet, auch beim „aufgeklärten westdeutschen Menschen“ könnte in Vergessenheit geraten, daß die Schwächen der Politiker eben „Teil jener Demokratie westlichen Zuschnitts (sind), deren Nachteile groß, deren Vorteile aber noch größer sind“.

Beim Thema deutsche Einheit steht Jürgen Habermas stellvertretend für das von Cora Stephan bekämpfte „postnationalistische Milieu“. Leider arbeitet hier ihre Neigung gegen sie, fast ausschließlich ihr genehme Positionen genau zu zitieren, die der anderen Seite hingegen nur mit anoymen Kurzzitaten zu umreißen. Für diese Postnationalisten sei „die deutsche Einheit eine einzige große Kränkung, angerichtet vom blöden historischen Zufall und den begehrlichen Ossis mit ihrem ,DM-Nationalismus‘ (Habermas)“. Nur: Habermas mokierte sich gar nicht über die Ossis. In seinem Aufsatz „Der DM-Nationalismus“ (für alle, die die Quelle bei Stephan vergeblich suchen: in der Zeit vom 30.3.90) geht es um westliche Arroganz, wenn er von den „ersten Blüten eines pausbäckigen DM-Nationalismus“ schreibt und fortfährt: „Der auftrumpfende Kanzler ließ den schmächtigen Ministerpräsidenten die Bedingungen wissen, unter denen er die DDR ankaufen wird.“

Stephans Polemik nutzt Habermas' vermeintliche Ossi-Vorurteile, aber eigentlich ist ihr natürlich etwas anderes ein Dorn im Auge: Mit diesem Aufsatz forderte Habermas einen Volksentscheid über eine neue gesamtdeutsche Verfassung. Eine plebiszitäre Todsünde für eine Autorin, die meint, jede Forderung nach mehr Demokratie würde unsere repräsentativen Institutionen aufweichen.

Bei der Lektüre wird nicht klar, welchen Beitrag ihre Analyse dazu liefern kann, daß die Politik endlich, wie sie richtig fordert, in der Gegenwart ankommt. Wo sie reale Probleme benennt – Beispiel Rostock –, nimmt sie diese nur für die eigenen Thesen in Anspruch. Da heißt es: „Ganz offenkundig hatte in Rostock nicht ,die Gesellschaft‘, sondern die Polizei versagt.“ Cora Stephan liegt nur an der „Bekräftigung des Gewaltmonopols des Staates“. Daß die neue Qualität seit Hoyerswerda (und in dieser Form nur im Osten) die beifallklatschenden Anwohner waren, bleibt ausgespart. Der Rechtsradikalismus im vereinten Deutschland dagegen kommt nicht vor. Die Misere des Ostens wird auf DDR-Nostalgie reduziert: „Fatal wäre es, wenn man sich auch im Osten wieder flüchten würde vor einer Demokratie, die ja alle wesentlichen Probleme nicht lösen könne, in das utopische Reich der Widerspruchslosigkeit ...“. Geht es aber nicht eher um Desinteresse an Demokratie? Ist aus dem von allseitiger Politisierung überforderten Bürger Stephanscher Provenienz nicht längst einer geworden, der wieder stärker gefordert werden muß? Hier ist Cora Stephans Uhr 1989 stehengeblieben.

Cora Stephan: „Der Betroffenheitskult. Eine politische Sittengeschichte“. Rowohlt Berlin, 191 Seiten, 29,80 DM