■ Verständnis statt Unterdrückung
: Jede Sprache hat ein Recht auf Literatur

Europa ist seit Jahrhunderten Heimat für die unterschiedlichsten Völker, Kulturen und Traditionen – und für fast genausoviele Sprachen: die dominierenden Sprachen der großen Nationalstaaten ebenso wie die oft unterdrückten, aber immer noch lebendigen Sprachen der Minderheiten und der kleinen unabhängigen Staaten. Jede dieser Sprachen verfügt über eine einzigartige Literatur. Der Schriftsteller, der in der Sprache der Gemeinschaft schreibt, in der er lebt, verleiht der Kultur, Philosophie und den ethnischen Besonderheiten dieser Gemeinde eine universelle Qualität in Zeit und Raum.

Obwohl ein Großteil der Literatur kleinerer Völker in der Vergangenheit nur mündlich überliefert wurde, ist das Ergebnis dennoch höchst beachtenswert. Die gälische Dichtkunst in Irland und Schottland stand zum Beispiel im 18. und 19. Jahrhundert in voller Blüte, wurde jedoch fast ausschließlich mündlich überliefert. Besonders wichtig für die Erhaltung dieser Kultur muß deshalb die großzügige finanzielle Unterstützung der Literaturveröffentlichungen in den kleineren Sprachen sein – und von literarischen Übersetzungen in alle und aus allen Sprachen der Gemeinschaft. Die Hauptsprachen in Europa haben dabei nichts zu befürchten, haben sie doch von den Einflüssen der Minderheitensprachen in der Vergangenheit stets profitiert: Man denke nur an Liam O'Flaherty, der mit Irisch aufgewachsen ist, oder an Günter Grass, dessen Muttersprache Kaschubisch ist.

Vielleicht ist es eine Reaktion auf die fortschreitende Anglo- Amerikanisierung, vielleicht ist es aber auch Chauvinismus, daß so viele Menschen in Frankreich und Deutschland zu der Überzeugung gelangt sind, daß es nicht gut ist, wenn die Literatur der anderen Völker nur mittels englischer Übersetzungen verbreitet wird. Das führt dann nämlich dazu, daß die Schriftsteller der kleineren Völker dazu übergehen werden, die idiomatischen Wendungen moderner englischer Dichtung zu übernehmen, damit ihre Werke leichter übersetzt werden können, weil das finanzielle Vorteile und breite Anerkennung einbringt. Gearailt Mac Eoin

Der Autor lebt in Dublin und hat für seine Gedichte in irischer Sprache mehrere Literaturpreise gewonnen. Außerdem arbeitet er als Übersetzer, Literaturkritiker und Radiojournalist.