■ Verlage spüren Bestseller per Checkliste auf
: Die Angst des Lektors

Seinerzeit – in der ersten Hälfte des Jahrhunderts und bei manchen Verlagen gar bis in die goldenen sechziger Jahre hinein – legte der Lektor bei neuen Manuskripten gerade mal vier Meßlatten an: Hat es Stil? Ist es kompetent? Reißt es mit? Deckt es Zeitströmungen ab? Heute reicht das lange nicht mehr. Die erste Frage, die im Verlag gestellt wird, ist die nach der „Marktplazierung“: Läßt sich das Werk auf die Bestsellerlisten hieven? Stehen entsprechend lenkbare Rezensenten bereit? Kann eine Verfilmung angekündigt werden? Vor allem aber: Können wir die Rechte am Opus irgendwohin verkaufen – an Taschenbuchverlage, an Bücherringe oder ins Ausland? Das Ausland ist nicht nur des Geldes wegen wichtig, sondern es stärkt auch das Ansehen des Hauses und des Autors.

All das hat Rückwirkungen – vor allem auf das, was der Lektor nicht mehr nur erwartet, sondern was er erwarten muß, will er sich verlagsintern nicht als Nullnummer erweisen. Längst schon ist selbst im Binnenmarkt eine Checkliste parat, auf der genau verzeichnet ist, was alles im Roman, der Novelle, der Reise-Erzählung präsent sein muß. So darf die Materie nicht mehr länger nur aus dem Blickwinkel des Mannes, sondern auch aus dem der emanzipierten Frau dargestellt werden; ein Randgruppenangehöriger muß unbedingt rein; Gewalt als Zeiterscheinung und Friedenssucht als ebensolche gehören ebenfalls dazu. Darüber hinaus viel Kritik am Zustand der Gesellschaft. Doch auch das allein reicht nicht mehr.

Wer einen Roman ins Ausland verkaufen will, muß zusätzlich vorsorgen: „Man kann doch heute keine Handlung mehr auf ein Land alleine beschränken“, sagt der Cheflektor und entwirft den Reisebogen, den Held oder Heldin, Häscher oder Verfolgte absolvieren müssen – USA und Japan (des ekeligen Kapitals und der Fremdartigkeit willen), Südamerika (weil auch Kokain in einen echten Roman gehört), und dann rin in den Ex-Ostblock, zumindest mit einer Kurzromanze mit der schönen Natascha und allerlei Verwicklungen durch Ex-KGB- und Stasi-Pfuiteufelchen.

Armes Europa. Früher dürsteten LeserInnen gerade danach, fremde Länder über Ereignisse auf deren Territorium und innerhalb der dortigen Kultur kennenzulernen. Heute kauft der Leser – jedenfalls nach Verleger-Meinung – Bücher nur noch dann, wenn zumindest ein Schauplatz des Romans gleich vor seiner Haustür liegt. Und arme Schreiberlinge: Leider haben sie es inzwischen nur allzu gut gelernt, diese Schauplätze einzubauen und ihre Romane so nach der Europanorm stromlinienförmig hinzubiegen. Carlo D'Auria

Der Autor war mehrere Jahre Lektor in italienischen Großverlagen und arbeitet heute als freier Journalist in Sizilien