Literarische Metastasen

Bücher gibt es in Rußland vor allem als Raubkopien  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Nach dem August-Putsch 1991 machte ich mich auf den Weg, um zu besichtigen, was von den großen sowjetischen Staatsverlagen, etwa „Progress“ oder „Sowjetski Pisatel“, übriggeblieben war. Es stellte sich heraus: vor allem die Häuser. Wie leere Hüllen zu niedrig gewordener Pilze standen sie in der Stadtlandschaft. Und doch regte sich ein schüchternes Leben darin. Es bildeten sich Metastasen, Ex- MitarbeiterInnen teilten sie wie Gemeinschaftswohnungen für neue, private Kleinstverlage auf.

Auf der letzten Moskauer Buchmesse vom 9. bis 12. September kam ans Tageslicht, wieweit es das Bücher-Busineß in Rußland inzwischen gebracht hat. Daß es erst einmal auf den Hund gekommen sei, konstatierten viele Kommentatoren: nämlich in bezug auf Quantität und Qualität der Produktion. 28.000 neue Buchtitel sind in den vergangenen zwölf Monaten im Lande erschienen, im Vergleich noch weniger als im Terrorjahr 1937. Noch schlimmer: von den 20.000 Übersetzungen sind schätzungsweise 90 Prozent Raubdrucke. Jeder kennt sie aus den U- Bahn-Unterführungen, die billigen Pappdeckel mit den vollbusigen Angéliques, den mordenden Gärtnern, der neunundneunzigsten erregenden Stellung und der vorbildlich ins Kraut schießenden Balkon- Aubergine – dahinter falsche Informationen und Hoppla-hopp- Übersetzungen.

Unter dem Vorsitz des Schriftstellers Fasil Iskander wurde auf der diesjährigen Buchmesse die russische „Verleger-Assoziation gegen Piraterie“ gegründet. Erst in diesem Juli wurde sie möglich durch das erste „Gesetz über Autoren-Rechte“, eines der wenigen, das von Dauer zu sein verspricht. Konfiskation der Auflage und der Druckereiausrüstung sowie Geldstrafen bis zu 350 Millionen Rubel (cirka 700.000 DM) drohen jetzt im Falle eines Raubdruckes. Das erste Exempel gedenkt die Assoziation im Interesse des Traditions-Verlages „Chudoschestwennaja Literatura (Künstlerische Literatur)“ zu vollziehen. Der hatte für teures Geld die Rechte für „Vom Winde verweht“ erstanden, sah sich aber lange vor Vollendung der eigenen Übersetzung mit einem an den Straßenrändern vertriebenen Billigmachwerk namens „Scarlett“ konfrontiert. Gleich vor Gericht nachziehen will der junge Privatverlag „Vagrius“. Von den 35 Titeln, die er bisher herausgeben konnte, wurden ihm 16 geklaut.

Wenn die Zeiten also auch hart sind, die Papierpreise unerschwinglich und die wenigen Druckereien ihre Monopolstellung weidlich nutzen – erstmals seit Jahrzehnten gibt es in Rußland einen Buchmarkt, der die KäuferInnen-Interessen widerspiegelt. Daß diese weit vielfältiger sind, als man meinen möchte, hat der Verlag „Terra“ bewiesen. „Terra“-Direktor Sergej Kondratow zählt trotz seiner 32 Jahre zu den alten Hasen im Buchgeschäft. Vor vier Jahren begann er mit 50.000 Rubeln sein Konzept eines Verlages für gehobene, ja elitäre Ansprüche zu verwirklichen. Der Sprößling wuchs mit jeder Stunde und hat heute einen Jahresumsatz von einer Milliarde Rubel.

Von der Klassik bis zur Kinderliteratur, vom enzyklopädischen Wörterbuch à la Brockhaus und Efron in 82 Bänden bis zu Brehms Tierleben erstreckt sich das Programm. Vorwiegend produziert dieser Verlag Raritäten für Bibliophile, wie „Die Reise nach Osten seiner Kaiserlichen Hoheit, des Thronfolgers und Caesarewitsch“. Für die Herstellung der drei handgebundenen Bände mit eingeklebten Illustrationen in einer Auflage von je 100 (!) Exemplaren mußte „Terra“ pensionierte Buchbindermeister suchen. Mit Freuden stürzte sich Kondratow auf zwei Projekte, vor denen alle anderen russischen Verleger zurückschreckten: das 22bändige „Archiv der russischen Revolution“ der Sammler Hessen und Nabokow und das offizielle „Archiv des großen Vaterländischen Krieges“ in fünfzig Bänden. Beides künftig ein „Muß“ für HistorikerInnen in aller Welt. Was das die angebliche Leseunlust des modernen russischen Publikums betrifft, so hält Kondratow sie für ein Gerücht, ausgestreut von solchen Alt-Verlagen, die ihre einst staatlichen Gebäude heute als Autosalons weitervermieten.

Einen anderen Weg beschritt der anfangs beschriebene Gigant „Progress“. Seine Aufgabe bestand früher darin, die Reden kommunistischer Volksführer in alle Welt zu verschleudern. Sie kosteten Kopeken und sollen, wie der Moskauer Volksmund behauptet, in äquatorialen Breitengraden als billigstes Baumaterial für Hütten gedient haben. „Progress“ hat die Zellteilung unter seinem Dach zum eigenen Vorteil nutzen können und sich in einen Verband verschiedener Tochter-Verlage mit jeweils sehr unterschiedlichem Profil transformiert.

In diesen Tagen, in denen viele Moskauer Buchgeschäfte schließen, hat „Progress“ ein großes modernes Verkaufslokal im Zentrum neueröffnet. „Unser Buchhandel versteht es noch nicht, die Leser einzuholen und gut produzierte Bücher auch gut zu verkaufen“, hieß es bei der Eröffnung. Daß die russischen Verlage darauf angewiesen sind, buchstäblich den Appetit der LeserInnen zu wecken, bestätigte auch die diesjährige Buchmesse. Meine Freundin Walentina hätte sich angesichts ihres Lehrerinnengehaltes dort nicht einmal ein Hot dog leisten können. Der Entschluß vieler Besucher, stundenlang zwischen den Ständen umherzuschlendern, setzte eine eindeutige Entscheidung für geistige und gegen körperliche Nahrung voraus.

Dabei ist es immer weniger wahrscheinlich, daß sich solche Verlage mit einer einseitigen Geschäftsrichtung begnügen. Dies hängt zum Teil damit zusammen, daß der Publikumsgeschmack in der Sowjetunion sich im letzten Jahr kraß von Büchern mit sozialen und politischen Themen abgewandt und romantischen und spannenden Sujets zugewandt hat. Von ersteren gibt es hier aber rein kaufmännisch betrachtet zu viele, von den zweiten zu wenig.