Zur Korrektur von Geburtsfehlern

Probleme mit künstlich konstruierten Staaten, in Afrika und Europa: Biyi Bandele-Thomas sprach mit  ■ Wole Soyinka

Biyi Bandele-Thomas: Wenn ich sage „Ich bin Nigerianer“, heißt das im besten Fall nicht einfach nur, daß ich einen Paß habe, in dem ich als solcher bezeichnet werde? Und ist es im schlimmsten Fall nur eine bedeutungslose, abstrakte Zuordnung? Wäre es nicht ehrlicher, wir würden sagen „Ich bin Hausa – oder Ibibio oder Yoruba“? Gibt es nicht sehr gute Gründe dafür, diese geopolitische Einheit, die wir als Nigeria kennen, zu einer Konföderation zu machen?

Wole Soyinka: Das ist ein Problem, das mich schon lange beschäftigt. Als der Bürgerkrieg ausbrach, habe ich gesagt, es wäre mir lieber, Biafra machte sich unabhängig und kreierte seinen eigenen Staat, als daß Nigeria zusammenbliebe – besonders um den Preis, den man in Zukunft dafür noch wird zahlen müssen, denn diesen Preis zahlt man nicht ein für allemal. So etwas hat sehr langfristige Auswirkungen.

Ich habe damals den Abfall Biafras als moralisch gerechtfertigt, aber politisch falsch bezeichnet. Ich habe zwischen diesen beiden Gründen unterschieden, weil Biafras Entscheidung für einen separaten Staat angesichts dessen, was vorgefallen war, moralisch gerechtfertigt erschien. Aber ich hielt es für einen politischen Fehler – wegen Nigerias Situation im afrikanischen Kontext und im Weltzusammenhang.

Biafra hat dann den eigenen Minderheiten das Recht verweigert, sich nach der Teilung zu entscheiden, zu wem sie gehören wollten, und das war ein weiterer politischer Fehler.

Will ich, daß Nigeria eins bleibt, daß es die Einheit Nigerias gibt? Will ich, daß die Definition dessen, was Nigeria ist, so bleibt, oder sollte es anders definiert werden? Ich möchte das zunächst beiseite lassen und statt dessen über die Position der Demagogen sprechen, die Nigerias Einheit behaupten und sie für sakrosankt erklären. Das ist eine lächerliche Haltung. Wann ist Nigeria als Nation entstanden? Und wie ist es entstanden?

Nigeria war eine künstliche Schöpfung, eine Schöpfung, die nicht nach den Wünschen, Interessen oder dem politischen Willen der Völker fragte, die es inkorporierte und in seine Grenzen einschloß. Die Erschaffung Nigerias ist, wie die vieler afrikanischer Staaten, mit diesem Geburtsfehler behaftet.

Ich erinnere mich, daß ich, als die Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) die Unverletzbarkeit der von den Kolonisatoren geerbten Grenzen als einen Grundstein ihrer Organisation akzeptierte, entsetzt war. Ich hätte gedacht, daß es das vernünftigste für die OAU gewesen wäre, sich mit Lineal und Kompaß um einen Tisch zu setzen und die Grenzen neu zu zeichnen.

Heute kann man das nicht mehr machen. Damals, vor der Entwicklung unabhängiger ökonomischer Einheiten, die man so leicht nicht auseinanderschneiden kann, wäre das nicht nur politisch richtig, sondern auch ökonomisch und psychologisch vernünftig gewesen: zu sagen, wir wollen uns durch unseren eigenen politischen Willen neu definieren. Das wäre ein Akt großer politischer Stärke und Entschiedenheit gewesen. Wenn die Europäer das einfach tun konnten, warum konnten wir dann die Chance nicht nutzen und es für uns selber tun?

Generell akzeptiere ich diese Haltung, die fragt: Was soll das eigentlich sein – Nigeria? Ich weiß es zunächst auch nicht. Ich weiß, ich bin Yoruba, oder Hausa, oder Efik. Aber wie, ich glaube Bette Davies, einmal sagte: „Nichts macht verwandter als Verwandtschaft!“ Sperr' zwei Völker zusammen, und sie wachsen ineinander, sie werden verwandt. Die historischen Ereignisse, das Geschehen gemeinsam zu erleben, politische Schicksale, ökonomische Regeln, kulturelle Beziehungen und Begegnungen miteinander zu teilen, kann selbst innerhalb der künstlichsten Grenzen ein Gefühl der Einheit kreieren. Nach einigen Generationen kann auch ein Aba oder Ife stolz sein auf die Kultur der Kaduna oder Maiduguri.

Ich bin im Norden Nigerias geboren und lebte dort die ersten 18 Jahre meines Lebens. Meine Eltern sind Yoruba, und als ich als Teenager das erste Mal in das Städtchen kam, aus dem mein Vater stammte, fühlte ich mich total als Fremder und sprach mit einem deutlichen Akzent. Meine erste Sprache war im Grunde Hausa gewesen, ich war zum Hausa geworden. Nach der Schule, die ich mit guten Noten abgeschlossen hatte, versuchte ich, einen Platz an der Bayero-Universität in Kano (im Hausa-Norden; U.R.) zu kriegen und wurde abgelehnt. Erst später kriegte ich mit, daß das an meinem Namen lag. Das war wie eine Offenbarung für mich: man sagte mir, ich hätte dorthin zurückzugehen, wo meine Eltern herkommen.

Solche Erfahrungen, die Hunderttausende Nigerianer betreffen – und sozusagen unter der Gürtellinie treffen –, sprechen gegen dieses Gefühl der Einheit, von dem ich gesprochen habe. Mir fällt hierzu noch folgende Geschichte ein, die bestätigt, was Sie erzählen. Ein früherer Bildungsminister, Jubril Aminu, schickte eines Tages alle Schuldirektoren des Nordens, die ursprünglich aus dem Süden stammten, zurück in ihre Heimat. Welche Reaktion kann man denn darauf erwarten? Man macht diesen Leuten klar, daß sie in diesem Teil des Landes nicht dazugehören – was heißt, daß „Nigeria“ offenbar anders definiert ist, als sie selbst gedacht haben. Ich habe diese Entscheidung des Ministers damals sehr scharf und öffentlich angegriffen.

Vor einigen Jahren forderte ein prominenter nigerianischer Politiker die Rückkehr der Briten, und zu Anfang dieses Jahres argumentierte ein amerikanischer Akademiker sehr überzeugend für eine Rückkehr zum Empire. „Machen wir uns nichts vor“, schrieb er, „manche Länder sind einfach nicht in der Lage, sich selbst zu regieren.“

Europa entdeckt in den früheren Ostblockstaaten gerade, daß auch seine Völker nie in der Lage waren, sich selbst zu regieren. Sie haben nur mit Hilfe kaltblütiger, unbarmherziger Tyrannen überlebt. Jahrzehntelang haben diese Länder sich nicht selbst regiert. Sie blieben als Staaten bestehen und machten – mehr oder weniger – Fortschritte, und selbst diese Art von Fortschritt ist heute fragwürdig geworden, weil sie von einer fremden Macht, oder entfremdeten Schichten, regiert wurden. Ceausescu in Rumänien, Hoxha in Albanien, Stalin und seine Nachfolger in der Sowjetunion: diese Völker haben sich nie selbst regiert. Und sieh, was passiert, sobald sie die Möglichkeit dazu kriegen! Auch dort hat das mit Nationalgefühlen zu tun. Diese Entwicklung stellt unsere gesamte Vorstellung von Homogenität in Frage.

Können wir etwas – und was? – lernen von der Entwicklung im früheren Jugoslawien?

Das frühere Jugoslawien zahlt einen zu hohen Preis für das abstrakte Konzept nationaler Einheit. Im Zentrum jeder Gemeinschaft steht der Mensch, er ist dieses Zentrum. Wenn man Tausende umbringen muß, grausam abschlachten, um eine Gemeinschaft zu erhalten – ob Nation, Staat oder sonst etwas –, dann ist der Preis zu hoch, dann muß diese Gemeinschaft neu definiert werden. Nigeria muß lernen, daß manche liebgewonnene Vorstellung verabschiedet werden muß, wenn sie mit einer nicht so lieblichen Realität kollidiert. Wenn der Preis für ein einiges Nigeria der ist, den Jugoslawien oder Somalia gerade zahlen, dann sollten wir uns besser gleich um den Tisch setzen und diesen Begriff neu definieren. Denn das betrifft ja nicht nur Jugoslawien. Wir vergessen gerne den brutalen Bürgerkrieg, der seit 20 Jahren im Sudan herrscht. Die Aussage, die ein zwanzigjähriger Bürgerkrieg macht, ist klar und deutlich. Ich war sehr beeindruckt von der SNPLA-Gruppe von John Garang im Süden, die bei ihrem letzten Treffen mit der Regierung erklärte, daß sie nicht die Auflösung des Sudan wollen, daß sie sich nicht unabhängig machen wollen, aber daß sie auf gar keinen Fall von den islamischen Gesetzen der Scharia regiert werden wollen. Wenn diese Barriere beiseite geräumt werden kann, sind sie willens, sich in das Land wieder zu integrieren. Das ist ein sehr großzügiger Vorschlag, denn die Tatsache eines zwanzigjährigen Bürgerkriegs ist ja nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Sie bedeutet, wir gehören nicht zusammen. Wahrscheinlich wäre eine Konföderation die Lösung für den Sudan.

Und wenn es gar nicht anders geht – wonach es zur Zeit durchaus aussieht – würde ich diese Lösung auch für Nigeria empfehlen. Sie ist nicht ideal. Aber angesichts der derzeitigen Krise, in der die Armee gespalten ist, die Beamtenschaft sich nicht mehr als Teil des Landes fühlt, und im ganzen Land Gefühle wieder aufbrechen, die man sehr lange zu unterdrücken versucht hat, ist mir lieber, wir setzen uns, wie man es in der Tschechoslowakei gemacht hat, zusammen an den Tisch und entwickeln neue Konzepte.

Babangidas Verhalten nach den Wahlen hat verstärkt den Eindruck hinterlassen, daß es in der Armee starke Elemente gibt, die sich mit diesen atavistischen, nach ethnischen Prinzipien funktionierenden Kräften verbunden haben, und daß die keine Führung zulassen werden, die nicht aus ihrem eigenen Volk oder Stamm kommt.

Es ist gesagt worden, daß wir alle ausländischen Schulden zurückzahlen und sogar wieder ein Land für Investitionen werden können, wenn alle reichen Nigerianer in Nigeria investierten wie in ein Geschäft.

Ich habe dafür keine Zahlen und Fakten als Belege, aber ich halte das tendenziell für möglich. Das wird unter Umständen einer der Verluste sein, den Nigeria dafür hinnehmen muß, daß an seiner Spitze nicht jemand wie Abiola steht. Abiola ist ein höchst kompetenter Geschäftsmann. Manche sagen, er hat sich seinen Reichtum auf krummen Wegen ergattert und steckt mit den Multis unter einer Decke. Aber ich kann dazu nur sagen: Lieber ein kompetenter Gauner als ein begriffsstutziger Engel. Und das gilt besonders für ein so großes und komplexes Land wie Nigeria, das so viele natürliche Reichtümer hat. Jedesmal tut es mir auf Reisen weh, zu sehen, wie andere Völker etwas geschafft haben, wo bei uns nur Mangel herrscht. Wenn wir nicht diese Ressourcen hätten, wäre es nicht so schmerzlich. Aber wir wissen, daß die Quellen des Reichtums da sind und daß wir unser Land innerhalb von zehn Jahren völlig umkrempeln könnten. Und wenn ich umkrempeln sage, meine ich ganz greifbare Sachen, die jeder sieht: Gesundheitswesen, Infrastruktur, öffentliche Dienste, zum Beispiel funktionierende Telefone, Massenverkehrsmittel ...

Die Haltung der Menschen wird sich mit einer solchen greifbaren Veränderung auch ändern. Das Ausmaß der Brutalität in Nigeria heute ist beängstigend: menschliche Beziehungen bröckeln, es herrscht eine Raubtiermentalität, die wir vor zwanzig Jahren noch nicht kannten. Nigeria ist zu einem grausamen Land geworden. Es herrscht eine Krise, eine Philosophie des Kannibalismus, eine Gnadenlosigkeit im Umgang miteinander. Gerade jetzt zum Beispiel gibt es das Gerücht, daß die Benzinpreise demnächst erhöht werden, und noch bevor es passiert, heben die Händler schon die Lebensmittelpreise an.

Ich mag den Ausruck „moralische Wiederaufrüstung“ nicht, er klingt nach Vergangenheit.

Aber irgend etwas muß schon passieren, ob man das nun eine „ethische Wiederaufrüstung“ oder „menschliche Wiederaufrüstung“ nennt – eine Art von Neubewaffnung brauchen wir. Und die kann nur mit der Verbesserung der Lebensqualität der Menschen anfangen, mit einer sichtbaren Verbesserung der physischen Umwelt – und natürlich einer Beschneidung der Korruption. Korruption ist zu einem offenen, geradezu exhibitionistischen Akt geworden. Und dieser Exhibitionismus der Bestechlichkeit hat Ausmaße angenommen, die selbst in Nigerias Geschichte ohne Beispiel sind.

Unser Jahrzehnt hat die Formulierung von der „ethnischen Säuberung“ erfunden. Und dieser Ausdruck ist selbst von der liberalen westlichen Presse fraglos übernommen worden. Gleichzeitig gibt es in ganz Europa ein Wiederaufleben von Faschismus und Nazismus. Was impliziert das für uns, die wir unvermeidlich zu den Angriffszielen dieser Philosophien des Hasses werden?

Sie tut mir leid, die europäische Presse in ihrer Verlegenheit ... Sie findet es schwer zu akzeptieren, daß das, was in Nazideutschland geschah, sich zur Zeit in bestimmten Teilen der Welt wiederholt, zum Beispiel im früheren Jugoslawien und in Teilen der alten Sowjetunion.

Und wenn man Saddam lassen würde, hätte der seine „ethnischen Säuberungen“ in Nordirak auch längst schon vollendet. Demnächst gehen sich Griechenland und Albanien an die Kehle. Europa und auch wir müssen davon lernen, daß diese Monster immer da sind und ständig irgendwie exorziert werden müssen, sowohl von staatlichen Kräften, der Polizei, als auch durch eine moralische Entschiedenheit der Bevölkerung. Die Wiederkehr des Nazismus erstaunt mich nicht: der ist im Hintergrund immer da. Lassen Sie mich daran erinnern, daß selbst in Nigeria eine Art „Säuberung“ stattgefunden hat. Ich meine damit die Maroko- Episode, als fast eine Million Menschen in Lagos plötzlich zu Untermenschen gemacht wurden: ihre Wohnungen, ihre ganze Welt, in der sie mehrere Generationen lang gelebt hatten, wurden plötzlich über Nacht mit Bulldozern niedergewalzt und ausgelöscht. Ich nenne das eine „Säuberung nach Klassen“. All diese Formen der Dehumanisierung sind Abweichungen, die man angehen muß, bevor man wagen kann, von einer neuen Weltordnung zu sprechen.

Wole Soyinka, 1934 in Abeokuta (Westnigeria) geboren, ist nicht nur Dramatiker und Romanautor, sondern auch Kritiker, Lehrer, Übersetzer, Schauspieler, Essayist und Politiker. 1986 erhielt er den Nobelpreis für Literatur. Wichtigste Werke: der Roman über den Biafrakrieg „Die Plage der tollwütigen Hunde“ (1973), die Aufzeichnungen aus dem Gefängnis „Der Mann ist tot“ (1972) und die Kindheitsgeschichte „Aké“. Von Biyi Bandele-Thomas ist gerade der Roman „Kerosin Mangos“ beim dipa-Verlag erschienen.