Volksdeputierte simulieren Realität

Der aufgelöste Kongreß tagt, entmachtet den russischen Präsidenten erneut und diskutiert über Schul-, und Kulturpolitik / Ruzkoi will bei Präsidentenwahlen nicht kandidieren  ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath

„Freundliche Wünsche“ schickten die in Moskau versammelten ehemaligen Deputierten des Volkes „dem ehemaligen Präsidenten der Russischen Föderation Boris Jelzin“ in einer Resolution mit auf seinen weiteren Lebensweg. Zuvor hatten die Abgeordneten ganz im Stil der letzten Tage Jelzin nochmals seines Amtes enthoben.

Keiner weiß, wie viele Deputierte tatsächlich trotz Verbots der russischen Regierung im „Weißen Haus“, dem Sitz des Obersten Sowjet, gelandet sind. Das Pressereferat des Parlaments scheut sich, genaue Zahlen zu veröffentlichen, obwohl es eigentlich keine Folgen zu befürchten hat. Denn offenkundig haben sich die hartnäckigen Parlamentarier zum Ziel gesetzt, die Realität zu simulieren. Um die für eine Amtsenthebung des Präsidenten notwendige Zweidrittelmehrheit zu erreichen, setzten die Deputierten die Zahl der Kongreßmitglieder einfach herunter. Um ganz auf Nummer Sicher zu gehen, verbannte man per Abstimmung schließlich auch noch die demokratischen Kollegen aus der von Jelzin aufgelösten Volksvertretung. Tatsächlich haben sich aber wohl nur 400 Deputierte versammelt. Das Leben in einer geschlossenen Anstalt folgt häufig einer Eigenlogik, die sich nicht unbedingt an der Wirklichkeit orientiert. Demzufolge verabschiedete das hohe Haus eine weitere Resolution, in der es Jelzin aufforderte „seine antikonstitutionellen Handlungen einzustellen“. Gleichzeitig widmete man sich aber auch Fragen der Kultur- und Schulpolitik. Selbst Parlamentschef Chasbulatow sah sich genötigt, seine Leute zur Disziplin zu rufen. So diskutierte man dann die Frage gemeinsamer Neuwahlen des Präsidenten und des Parlaments im Februar. Alexander Ruzkoi versprach, an den Präsidentenwahlen nicht teilzunehmen.

Im Gegensatz zu seinen Kollegen bewies er damit gehörigen Realitätssinn: Aus der Untersuchungshaft läßt sich nur schwer Wahlkampf betreiben. Schließlich gehörte er zu denen, die das Strafmaß für Verfassungsverstöße noch in der Nacht vom Dienstag drakonisch erhöhten – bis zur Todesstrafe. Die Bewaffnung der Demonstranten vor dem Weißen Haus sowie die Aufstellung nicht näher spezifizierter Sicherheitskräfte des Parlamentes dürfte einen Straftatbestand erfüllen. Bisher ist auch nicht geklärt, wer als Hauptinitiator hinter dem blutigen Anschlag auf das Hauptquartier der GUS-Truppen steht. Ein Ehrenmann wüßte, wie er sich in solch einer Lage zu verhalten hätte.

Die Stimmung im Kongreß schwankt zwischen Angst, Niedergeschlagenheit und aufkeimender letzter Hoffnung. Als der von Jelzin entlassene und vom Parlament wiedereingesetzte Sicherheitsminister Barannikow verkündete, 7.000 Mann stünden ihm zur Verfügung, stieg der Widerstandswille vorübergehend. Viele Parlamentarier scheinen entschlossen zu sein, bis zum Äußersten zu gehen. So brachten sie es nicht fertig, den Angriff auf das GUS-Stabsquartier, bei dem zwei Menschen starben, zu verurteilen. Ihre Warnungen vor einem Bürgerkrieg sind versteckte Aufforderungen zum Blutvergießen.

Die Kamikaze-Haltung vieler Abgeordneter hat allerdings auch einen positiven Effekt. Eine Reihe Mitglieder des Parlamentspräsidiums hat inzwischen die Seiten gewechselt. Der Vorsitzende des außenpolitischen Ausschusses, Jewgenij Ambarzumow, wahrlich kein Freund Jelzins, begründete seinen Schritt: „Ich mußte diese Entscheidung treffen, nachdem extremistische Kräfte, die das Land in Richtung Bürgerkrieg stoßen, das Parlament übernommen haben.“

Mit ihm ging auch der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses Sergej Stepaschin. Die Belohnung ließ nicht lange auf sich warten. Er wurde stellvertretender Sicherheitsminister Jelzins. Den stellvertretenden Parlamentschef Rjabow, der am Vortag die Konsequenzen zog, ernannte Jelzin zum Leiter der zentralen Wahlkommission. Der Budgetchef des Parlaments, Poschinok, trat ebenfalls zurück. Generalprokurator Stepankow, der die Ermittlungen gegen Jelzin eröffnen sollte, hatte schon am Vortag das Lager gewechselt.

Die Front des Widerstands bröckelt nicht nur, sie bricht zusammen. Am Donnerstag distanzierte sich der Vorsitzende der Volkspartei Freies Rußland Lipinsky, von den Aktionen des Generalmajors Ruzkoi. Er hatte die Partei gegründet, die eine starke Kraft innerhalb der Sammlungsbewegung „Bürgerunion“ darstellte. Dennoch besteht Gefahr, sollten die Restdeputierten das Parlament in eine der gegen Jelzin eingestellten Städte verlegen – nach Nowosibirsk oder nach Omsk.