Wenn Gift durch die Zimmerdecke tropft...

■ Pfusch bei Dachstuhlsanierung: Kreuzberger Wohnung wurde mit Insektizid und Lindan verseucht / Nun überziehen sich Betroffene und Vermieter gegenseitig mit Klagen

Familie Schillen-Kanbay ist aus dem Häuschen – im doppelten Sinne: Zum einen kann sie seit zweieinhalb Jahren nicht mehr in ihrer Vierzimmerwohnung in der Kreuzberger Grimmstraße wohnen, weil diese mit Insektiziden und Pestiziden verseucht ist. Zum anderen ist sie verbittert darüber, wie wenig sie von bezirklichen Stellen und anderen Institutionen im Kampf um die Sanierung ihrer Wohnung unterstützt wird. Nun muß kommenden Donnerstag das Gericht entscheiden, ob der Vermieter den der Familie entstandenen Schaden wiedergutzumachen hat.

Alles begann mit einer Hausrenovierung. Rana Kanbay (34) erinnert sich noch ganz genau, wie es damals im Februar 1991 im vierten Stock ihrer Wohnung plötzlich durch die Decke tropfte. Draußen regnete es kräftig, und das Dach war nur unzureichend mit Dachpfannen und Plastikplane abgedeckt. „Ich dachte, es ist Wasser“, erzählt die Mutter zweier Kinder. Doch dann habe ihre damals fünfjährige Tochter Clara krampfartige Bauch- und Kopfschmerzen bekommen. Die Anfälle seien bis heute nicht völlig verschwunden. Lola (damals drei), ihr Mann Rudi und sie selbst hätten Entzündungen im Mund bekommen. Bei ihrem Mann habe sich eine Geschwulst an der Nasenscheidenwand gebildet, die erst nach einem halben Jahr abgeheilt sei. Die Krankheiten und gesundheitlichen Beeinträchtigungen seien aufgetreten, obwohl die gesamte Familie wenige Tage nach dem Durchtropfen die Wohnung verlassen habe. Bis heute steht die Wohnung in der Grimmstraße leer, weil sich Mieter und Vermieter darum streiten, auf welche Weise die Zimmer saniert werden sollen.

Die Ergebnisse eines von Rudi Schellen-Kanbay (39) in Auftrag gegebenen Gutachtens über die Schadstoffbelastung bestätigten den Verdacht der Familie. Im Hausstaub und in Materialien wie Textil oder Möbeloberflächen fanden sich für Holzschutzmittel typische Chemikalien wie Pentachlorphenol (PCP), Lindan und Schwermetalle wie Chrom, Kupfer, Quecksilber und Zinn in erhöhten Konzentrationen. Das krebserzeugende PCP etwa gilt international als „hoch toxisch“. Bei Haut- und Augenkontakt sowie Einatmen können schwere Reizungen und starke Empfindlichkeiten auftreten. Die Lunge kann verletzt und die Gesundheit langfristig geschädigt werden. Lindan wird als „krampferzeugend“ eingestuft.

Daß es zwischen den Tropfen von der Zimmerdecke und den Erkrankungen der Familie einen Zusammenhang gibt, „liegt sehr nahe“, sagt Rechtsanwalt Joachim Garbe-Emden, der Schellen-Kanbay vertritt. Das Gericht habe bisher versäumt, die Frage von einem Toxikologen untersuchen zu lassen, ob man von den Giftkonzentrationen in der Wohnung krank werden kann.

Fällt das Gericht sein Urteil zugunsten der Familie Schellen-Kanbay, kann das für Hausbesitzer Steinebach teuer werden. Der Putz von Decke und Wänden müßte abgeschlagen, der Holzfußboden der gesamten Wohnung ausgewechselt werden. Garbe-Emden rechnet mit Kosten um die 50.000 Mark. Die Staatsanwaltschaft ermittele gegen den Hausbesitzer außerdem wegen Körperverletzung. In diesem Verfahren müßte der Anwalt allerdings beweisen, daß die Betroffenen von diesen Giften krank geworden sind. „Das Schlimme ist“, bedauert Kanbays Anwalt, „am Anfang streitet man um Schadenersatz, aber dann geht es auf einmal ums Ganze.“ Der Vermieter habe Kanbay fristlos gekündigt und fordere inzwischen selbst Schadenersatz in fünfstelliger Höhe, weil durch den Rechtsstreit die Wohnung nicht saniert und vermietet werden konnte.

Es gehe der Familie doch gar nicht um Gesundheitsbeeinträchtigungen durch Holzschutzmittel, meint Architekt und Hausbesitzer Steinebach. Die wolle für ihre Möbel, die das Gericht auf einen Wert von 3.000 Mark geschätzt habe, 15.000 Mark herausholen. Er selbst habe in zwei Instanzen einen Prozeß gewonnen, gegen den Willen von Kanbay die Wohnung sanieren zu dürfen. Doch der Mieter habe ihm nicht den Schlüssel ausgehändigt. Deshalb die fristlose Kündigung.

Rudi Schellen-Kanbay widerspricht dem Vermieter. Steinebach und auch die Bauarbeiter hätten jederzeit die Wohnung betreten können. Tatsächlich wollten jene die Wohnung aber nicht sanieren. Rigips-Platten sollten unter die Decke gehängt und der Fußboden mehrmals überlackiert werden. Bei dieser „Sanierung“ würden die Gifte nicht entfernt, befürchtet der Familienvater. Dirk Wildt