Asphalt-Beleidiger der Feierabendklasse

■ Der 20. Berlin-Marathon sorgt für Verkehrsberuhigung / Bei den Läufern kein neuer Rekord / Sieger aus Südafrika

Straße des 17. Juni, kurz vor 9 Uhr. Die RollstuhlfahrerInnen haben die 42,195 Kilometer lange Marathonstrecke gerade unter ihre Räder genommen. Oder wollten sie nur der Dunstglocke aus Mobilat, Vaseline und anderen Wundersalben entfliehen? Höllisch mieft es am Startpunkt Charlottenburger Tor nach geheimnisvollen Einreibemittelchen. Die Außentemperatur beträgt knapp 13 Grad. Eigentlich eine ideale klimatische Voraussetzung. Doch im Innern brodelt es. „Hoffentlich regnet es nicht“, bangt ein Läufer, der mitsamt seiner Laufgruppe aus Baden-Württemberg bereits um 5 Uhr aufgestanden ist. Aber seit dem kleinen Frühstück um 5.30 Uhr bibbern sie nun schon untätig diesem Mammutrennen entgegen.

Wann endlich ist die ewige Warterei vorbei? „Schlafen konnte in der letzten Nacht vor dem Rennen sowieso keiner mehr!“ meint einer der dänischen Rothemden, die das stärkste Teilnehmerfeld beim diesjährigen Jubiläumsmarathon stellen.

Die Lippen aufeinandergekniffen, die Haxen ein letztes Mal gelockert, schweifen die Augen der meisten BreitensportlerInnen pseudolässig durch die Gegend. Ein letzter Plausch mit den Liebsten, ein Lachen hier, eine Floskel da – und trotzdem sind alle Nerven gespannt. Vor allem die rund 3.500 AnfängerInnen im Pulk werden sich nun mit der Einsamkeit des Langstreckenläufers vertraut machen.

Endlich geht es los. Doch für die Schwächeren in den hinteren Startreihen dauert es geschlagene vier, fünf Minuten, bis sie endlich die Startlinie passieren. Keine guten Bedingungen für anvisierte Bestleistungen.

An der Gneisenaustraße, nach etwas mehr als der Hälfte der Distanz, herrscht keine Euphorie wie früher. Die Zuschauerreihen sind merklich gelichtet. Nur aus wenigen Fenstern dringt aufmunternde Musik auf die Strecke. Kreuzberg pflegt noch den dicken Kopf von letzter Nacht. Die Spitze ist längst durch. „Einige Afrikaner, ein Ire und der Freigang aus Cottbus waren vorne“, raunt jemand. Wen kümmert es. Das Salz in der Marathonsuppe sind ohnehin die Tausenden Asphaltbeleidiger der Feierabendklasse. In den unterschiedlichsten, ja kuriosesten Gangarten ziehen sie vorüber. Die meisten wirken ruhig und verschlossen, um ihren inneren Schweinehund bloß nicht zu wecken. Andere wiederum können nicht euphorisch genug ins Publikum winken, obwohl ihre schon leicht verzerrten Gesichtszüge nicht gerade auf unerschöpfliche Kraftreserven schließen lassen. „Raucht doch erst mal eene!“ will einer, der recht ausgiebig die alte Sommerzeit verabschiedet hat, sowohl Stimmung als auch Läuferwaden auflockern.

Im Zielraum an der Gedächtniskirche, „Berlins guter Stube“, sind die besten „Rollis“ schon längst angekommen. Der Sieger, Heinz Frei aus der Schweiz, der den Berlin-Marathon nun bereits zum sechsten Mal gewinnen konnte, erzielt dabei eine neue Weltbestzeit. Bei den „Normalos“ reicht es hingegen nicht zu neuen Rekordhöhen. David Tsebe, der Favorit aus Südafrika, läuft nach rund 38 Kilometern „hohl“ und wird von seinem Landsmann Xofile Yawa zurückgelassen wie ein leerer Kasten Bier. Yawa durchschneidet nach 2:10:55 Stunden das Zielband. Nichts war es mit einer neuen Weltjahresbestzeit für Berlin oder wenigstens einer männlichen Laufzeit unter 2:10 Stunden.

Bei den Frauen darf sich die Polin Renata Kokowska nach exquisiten 2:26:21 Stunden (neuer Streckenrekord!) ebenfalls über 30.000 Mark Siegprämie freuen. Albertina Diaz aus Portugal kann dem Spurt der Siegerin von 1988 und 1991 bei Kilometer 40 nichts mehr entgegensetzen.

Und der Rest vom Läuferfest? Allein die unvergeßlichen Bilder von Hobbyjoggern, wie sie ebenso verkrampft wie verzweifelt versuchen, die Socken auszuziehen, verrät das Fazit des 20. Berlin-Marathons: Es war mal wieder herrlich anstrengend! Jürgen Schulz