■ Ludger Volmer: Für eine ökologisch-solidarische Reform
: „New Deal“ statt Zweidrittel

Die Bundesregierung muß abgelöst werden. Der Wille ist stark, der Druck groß. Doch die Rahmenbedingungen sind schlecht wie nie zuvor. Der Rechtspopulismus scheint stärker zu sein als die linke Öffentlichkeit. Politikverdrossenheit ist noch nicht umgeschlagen in Veränderungswillen. Einer geldintensiven Reformpolitik sind durch die zerrütteten Staatsfinanzen enge Grenzen gesetzt.

Wer vor diesem Hintergrund an eine rot-grüne Bundesregierung nach 1994 denkt, setzt eines von zwei Szenarien voraus. Entweder soll die neue Koalition den Mangel besser verwalten als die alte. Bündnis 90/Grüne wären reine Mehrheitsbeschafferinnen für eine Politik des geringeren Übels. Oder aber es keimt die Hoffnung auf eine neue Reformdiskussion, die die Verdrossenheit mobilisieren und gesellschaftspolitische Schubkraft entfalten könnte. Aus grüner Sicht lohnt nur die zweite Perspektive. Wenn wir in die Regierung gehen, dann, um gründlich zu reformieren. Wir haben kein Interesse, unsere Rolle als Hoffnungsträger zu verspielen. Denn wer kommt nach uns?

Wer die ökologisch-solidarische Wende will, muß versuchen, die realen Kräfte zu identifizieren und zu bündeln, die dieses Feld offensiv tragen können. Auf dieses Ziel muß auch ein grünes Wahlprogramm zugeschnitten werden. Die klassischen Themen grüner und bürgerbewegter Politik müssen in eine gesellschaftspolitische Strategie integriert werden, die eine reformpolitische Bündnisbildung erst möglich macht. Vor der Frage nach politischen Koalitionen steht deshalb die nach dem gesellschaftlichen Bündnis. Dazu eine kurze Skizze.

Ökologische Einstellungen haben sich in Teilen der Mittelschichten längst zu einer harten postmateriellen Interessenorientierung verdichtet. Ihnen genügt weitgehend der erreichte materielle Wohlstand. Sie wollen gar nicht unbedingt mehr: sondern weniger Streß, mehr Freizeit, weniger Konkurrenz, mehr Lebensgenuß. Wachstum als wichtigste ökonomische Zielgröße macht auf diesem Wertehintergrund keinen Sinn mehr. Das Bewußtsein, daß jede mehrverdiente Mark mit dem Verlust von Lebenswelt, mit der Zerstörung dessen, was mensch genießen möchte, erkauft werden muß, macht materielle Wohlstandssteigerung immer fragwürdiger.

Doch die alten Konfliktmuster sind deshalb nicht suspendiert. Für ein Drittel der Bevölkerung steht nach wie vor die soziale Frage im Vordergrund. Es gibt objektiven Nachholbedarf. Die Forderungen nach Verteilungsgerechtigkeit, nach Verbesserung der Lebenschancen, nach Abbau struktureller Armut, nach eigenständiger ökonomischer Existenzfähigkeit der Frauen stellen sich wieder dringlicher. Zum eigenständigen Stellenwert der sozialen Frage kommt noch eine gesellschaftsstrategische Überlegung: Zwar sind auch breite Teile der ärmeren Schichten sensibilisiert für ökologische Probleme. Solange sie aber den täglichen Kampf um Arbeit und Brot zu führen haben, fallen sie als BündnispartnerInnen für eine Ökologisierung der Gesellschaft aus.

Wenn diese beiden sozialen Schichten – das untere Drittel und die ökologisch und sozial sensibilisierten Mittelschichten – und in ihnen in besonderer Weise die Frauen das markanteste Interesse an grundlegenden Änderungen von Gesellschaftsstruktur und Lebensweise verspüren, dann muß es Aufgabe unserer Politik sein, einen solchen Interessenausgleich zu organisieren, damit sie gemeinsam ein Bündnis für eine Strategie der Transformation zu bilden bereit sind. Ins Parteipolitische übersetzt: Die grüne und die sozialdemokratische Klientel müssen sich auf ein gemeinsames Projekt verständigen, das dem liberalkonservativen der Zweidrittelgesellschaft entgegengestellt werden kann.

Deshalb schlagen wir einen New Deal vor: ein ökologisches Umverteilungsprojekt. Der Verzicht der neuen Mittelschichten auf weiteren materiellen Zuwachs kann ökologische und soziale Umbauprozesse finanzieren, die gleichermaßen die soziale Lebenslage der armen Schichten verbessern und allen ein Mehr an ökologischer Lebensqualität bieten.

Alleiniges Ziel ist aber nicht die Umverteilung aus der Mitte nach unten, sondern ein Deal als Medium zur Bildung einer politischen Kraft, die dem oberen Drittel der Einkommens- und Vermögenspyramide durch die Abschöpfung überschüssigen Reichtums einen Solidarbeitrag abtrotzen könnte. Rund 650 Milliarden Mark nichtinvestierter Mittel bei den Unternehmen und ein jährlicher Gewinn privater Haushalte von rund 150 Milliarden nur aus Kapitalerträgen müssen für ökologische und soziale Zwecke, insbesondere den Aufbau Ostdeutschlands, recycelt werden. Anders ausgedrückt: Die Einheitsgewinnler, die von der hohen Staatsverschuldung profitieren, müssen zur Kasse gebeten werden, notfalls über eine niedrigverzinsliche Zwangsanleihe.

Dieser Gesellschaftsvertrag zwischen alten Unter- und neuen Mittelschichten gründet nicht mehr auf dem Postulat pauschalen Wachstums. Es ist ökologisch nicht wünschbar und ökonomisch vorläufig nicht zu erwarten. Wenn aber keine Wachstumsgewinne mehr zu verteilen sind, dann muß Umverteilung aus vorhandener Reichtumssubstanz stattfinden. Insofern stellt sich die klassische linke Frage nach Umverteilung erheblich radikaler als in traditionellen sozialdemokratischen oder linkssozialistischen Theorien, die allesamt wachstumsgebunden sind.

Der nötige Interessenausgleich zwischen Nord und Süd, West und Ost im Rahmen einer ökologisch- solidarischen Weltwirtschaft verstärkt diesen Aspekt noch. Eine Anpassung aller Lebensverhältnisse an die Konsumstandards des kapitalistisch-industriellen Westens wird es nicht geben können. Deshalb müssen die Maßstäbe im Wohlstand neu definiert werden. Der Vorschlag des New Deal beinhaltet dies. Lebensqualität kann oberhalb einer Grundsicherung nicht primär materiell bestimmt werden. Das gilt auch als Maßstab für die Herstellung einer Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse in Deutschland.

Vor diesem Hintergrund werden Bündnis 90/Grüne „Ökologie“ als politische Markenzeichen weiterhin pflegen. Mehr denn je aber gilt, daß dieses Thema verflochten werden muß mit wirtschafts-, finanz- und sozialpolitischen Fragen. Ökologie ist mehr als „Umweltschutz“, sie ist politische Ökologie, gesellschaftsverändernde Politik.

Der Länderrat von Bündnis 90/ Grüne hatte diese Zusammenhänge im Auge, als er einstimmig das Konzept für das Bundestagswahlprogramm verabschiedete. Hier werden nicht politische Sparten nebeneinander aufgelistet, sondern es werden die für uns relevanten gesellschaftspolitischen Fragen formuliert, auf die wir antworten müssen. Das Resultat wird nicht eine Fülle unverbundener Forderungen sein, sondern eine Skizze dessen, was „Reformpolitik heute“ heißen kann.

Unsere politikleitenden Fragen lauten: 1. Wie kann die innere Einheit Deutschlands gestaltet werden und wer soll die Lasten tragen? 2. Wie können die Wirtschaftsweisen umweltgerecht umgestaltet und die ökologischen Lebensgrundlagen langfristig gesichert werden? 3. Wie kann die vollständige gesellschaftliche Gleichstellung von Männern und Frauen erreicht werden? 4. Wie können Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit verwirklicht werden? 5. Welche Rolle soll das neue Deutschland in den Konflikten und Institutionen der Welt spielen?

In der SPD hat die postmaterielle Grundhaltung an Terrain gewonnen. Noch aber befindet sie sich in der Minderheit gegenüber den materiellen Klientelinteressen aller sozialen Schichten. Der Klientelismus wird durch den grünen Diskursdruck in Schranken gehalten, nutzt aber in aggressiver Weise jede Gelegenheit zum Durchbruch. Dabei werden auch die umweltpolitischen Ansätze wieder zur Disposition gestellt. Verstärkt wird dieser Effekt dort, wo die SPD Regierungspolitik betreibt. Von daher hat die SPD kein umfassendes und kohärentes Konzept ökologischer Umverteilung. Es existieren umweltpolitische Programmpunkte und gleichzeitig der Glaube an einen kaum gebremsten industriellen Produktivismus. Die nachsorgende Umwelttechnik der SPD ist das Gegenprojekt zur politischen Ökologie von Bündnis 90/Grüne. Die ökologischen Ansätze auf dem linken Parteiflügel werden sich nur entfalten können, wenn sie in Verhandlungen mit uns eine Scharnierfunktion bekommen.

Die historischen, kulturellen und konzeptionellen Unterschiede von Bündnis 90/Grüne und SPD galten bisher immer als strategisches Dilemma. Wollte die SPD sich uns Alternativen nähern, um inhaltliche Einigungen zu erleichtern, würde die Voraussetzung für Verhandlungen, die gemeinsame Mehrheit, zerstört. Das war 1990 die Strategie Lafontaines, als er uns unter fünf Prozent drückte und in der politischen Mitte an die Union verlor. Wenn die SPD aber ins konservative Lager hineinmanövriert wie heute, wird eine Koalition mit uns schwierig.

Vielleicht hilft auch hier der Vorschlag des ökologischen New Deal weiter. Die SPD könnte den nach rechts abwandernden Arbeitern vermitteln, daß die wohlhabenderen Schichten zu Umverteilungen bereit sind, wenn sie selbst eine ökologische Wende mittrügen. Wir wiederum könnten den Mittelschichten deutlich machen, daß eine soziale Orientierung, das heißt die Solidarisierung nach unten statt nach oben, neue Verbündete bringt.

Vorstandssprecher von „Bündnis 90/Die Grünen“