Nebensachen aus Rio
: „Gefährlich ja, aber für wen?“

■ Für das untere Drittel der Einwohner ist die Millionenstadt am Zuckerhut die Hölle auf Erden

„Wohnen in Rio, ist das nicht gefährlich?“ Die Antwort beginnt mit einer Gegenfrage: „Gefährlich ja, aber für wen?“

„Der Schaft einer Pistole, an dem Kinder nagen, reflektiert alle Farben dieser Stadt, schöner und intensiver als auf jeder Postkarte.“ Caetano Veloso, Dichter und Komponist zugleich, sticht auf seiner neuen Platte in offene Wunden: Kinder als Opfer der wachsenden Kriminalität. Kinder von Papier- oder Krebssammlern, Kinder von Straßenkindern, Kinder von Köchinnen und Putzfrauen sind am Zuckerhut nicht gern gesehen. Am vergangenen Freitag wurde schon wieder ein Jugendlicher in Rio umgebracht. Marco Aurelio, siebzehn Jahre alt. Der Sohn eines Bettlerehepaares war schon lange „bestellt“, so der Code für Todgeweihte im Rio-Jargon.

Waren es Polizisten? Oder Todesschwadronen? Egal. Es waren auf jeden Fall „Cariocas“, wie sich die Einwohner Rios nennen, die es nötig haben, ihr schmales Gehalt mit Morden auf Bestellung aufzubessern. Viele dieser finsteren Zeitgenossen schmücken sich tagsüber mit der blauen Uniform der Militärpolizei. Wenn es um Geld geht, scheuen sie auch nicht davor zurück, auf Kollegen zu schießen.

Beim Massaker in dem Elendsviertel „Vigario Geral“ zum Beispiel (die taz berichtete), verbündeten sich Polizisten mit Drogenhändlern. Die Überwachung eines Kokaintransports in die Favela bringt ihnen jedesmal 4.000 US-Dollar ein. Doch zufällig wurden sie bei ihrer Arbeit von vier Kollegen überrascht. Keiner der vier Polizisten überlebte. Als unfreiwillig Eingeweihte wurden sie Opfer der sogenannten Archiv-Verbrennung, Rio-Jargon für die Ermordung von Mitwissenden. Irrtümlich wurden für den Tod der Polizisten die Drogenhändler von „Vigario Geral“ verantwortlich gemacht. Maskierte Militärpolizisten stürmten daraufhin die Favela und schossen blindlings auf jeden Bewohner. Resultat: 21 Tote, die Hälfte davon Frauen und Kinder.

Der Krieg der Habenichtse um den ersehnten Wohlstand, den sie nur als Hausangestellte, Pförtner oder Sicherheitskräfte erleben, spielt sich hauptsächlich in den Elendsvierteln der Stadt, genannt Favelas, ab. Mindestlohnverdiener, Drogenhändler und Polizisten wohnen dort auf engstem Raum zusammen. Sie mißtrauen ihrem Nachbarn und bekämpfen sich gegenseitig.

Nicht nur in Rio werden Besitzlose gegeneinander aufgehetzt, während sich Reiche hinter immer höheren Mauern verbergen. Seitdem die Berliner Mauer zusammengebrochen ist, scheint das Bedürfnis nach individuellen Schutzwällen weltweit zu wachsen. Doch wer hat eigentlich die Idee in die Welt gesetzt, die Menschen müßten friedlich miteinander auskommen? Gewaltfreie Großstädte existieren nur im Reiseführer.

Der brasilianische Journalist Arnaldo Jabor hat die heuchlerische Empörung über die zunehmende Gewalttätigkeit in ganz Brasilien schlicht satt: „Die Weltbevölkerung“, so schreibt er in der Tageszeitung Folha de São Paulo, „spaltet sich zunehmend in zwei Lager. Diejenigen, die sich über die Hölle aufregen, und diejenigen, die in ihr leben müssen.“ Die Cariocas jedenfalls kaufen sich von den Flammen des Fegefeuers an jeder Ampel mit ein paar Cruzeiros frei. Dann drücken sie aufs Gaspedal und atmen tief durch. Doch spätestens an der nächsten Ampel, wenn Kinder unaufgefordert die Windschutzscheibe säubern und Kaugummiriegel anbieten, hat sie die Wirklichkeit wieder eingeholt.

Rio ist die Hölle für Favela- Bewohner und Straßenkinder, kurzum für ein Drittel der Cariocas. Denn die Herrschaften hinter den hohen Mauern verstehen es vorzüglich, die Armen gegeneinander aufzuhetzen. Astrid Prange