Französischer Häuserkampf im Namen Gottes

■ Ein greiser Pater zwingt die Stadt Paris, 19 obdachlose Familien unterzubringen

Paris (taz) –„Zuerst habe ich in einer Kirche geschlafen und jetzt bin ich bei Leuten untergebracht, die ich nicht kenne“, erzählt der zehnjährige Kader. „Wo ich am Sonntag hingehen werde, weiß ich noch nicht.“ Seinen Schulweg quer durch Paris muß der Junge alle paar Tage neu erkunden. Denn Kader und seine Eltern sind obdachlos. Obwohl der Vater seit Jahren eine feste Anstellung als Koch hat und die Mutter mit Putzen Geld verdient, findet die afrikanische Familie keine Wohnung. Sozialwohnungen sind in der Stadt so knapp, daß ihrem Antrag wohl nie stattgegeben wird.

Auf Initiative des engagierten Vereins Droit au logement (DAL, Recht auf Wohnraum) zog die Familie im März in ein leerstehendes ehemaliges Kinderheim. Das 2.000 Quadratmeter große Gebäude gehört der Stadt Paris und soll zu einer Kinderkrippe umgebaut werden. Es wurde nur noch von einem alten Ehepaar, den ehemaligen Leitern des Heims, bewohnt. Sie nahmen insgesamt 19 obdachlose Familien mit 35 Kindern auf. Praktisch alle Väter haben eine feste Anstellung. Vier der Familien sind Französisch, die übrigen stammen aus Afrika. Sie alle haben das inzwischen schon klassische Schicksal von Geringverdienenden erlebt: Hadush Berada und ihre 68jährige Mutter wurden auf die Straße gesetzt, weil ihre Wohnung verkauft werden sollte. Khady Camara mußte mit ihrem Mann und den drei Kindern bei ihren Verwandten ausziehen, weil diese es nicht mehr ertrugen, zu 14 Personen in zwei Zimmern zu leben. Seit elf Jahren steht die Familie mit dem Vermerk „vorrangig“ auf einer Warteliste für die Vergabe von Sozialwohnungen – zusammen mit 60.000 anderen Antragstellern!

DAL wollte mit der Aktion die Anwendung eines Gesetzes durchsetzen, wonach leerstehender Wohnraum zugunsten Obdachloser beschlagnahmt werden kann. Doch auf die Klage der Stadt hin befahl ein Pariser Gericht den Rausschmiß der Familien. Noch bevor über deren Antrag auf Berufung entschieden war, beorderte die Stadt Paris an einem Augusttag um sechs Uhr früh ein großes Polizeiaufgebot vor das Heim. Die Beamten setzten die Familien kaltblütig auf die Straße. Fenster und Türen des Gebäudes wurden sofort zugemauert. Drei Wochen später befand das Berufungsgericht, daß die Familien aufgrund äußerster Not eingedrungen seien und gestand ihnen deshalb das Recht zu, weitere sechs Monate in dem Heim zu bleiben. Erst „nach dieser Frist ist die Stadt autorisiert, die Ausweisung vorzunehmen“, heißt es in dem Urteil. Doch die Stadt scherte sich nicht darum: „Es wäre ungerecht, Hausbesetzer vorrangig unterzubringen“, erklärte Jean Tibéri, Stellvertreter von Bürgermeister Jacques Chirac, und sorgte für vollendete Tatsachen: Er ließ in dem Gebäude Decken und Wände einreißen.

Diese Mißachtung der Justiz brachte den 81jährigen Abbé Pierre so auf, daß er seinen Ruhesitz bei Rouen trotz einer Lungenkrankheit verließ: Am Samstag nachmittag setzte sich der Pater vor das verbarrikadierte Kinderheim, den Orden der Ehrenlegion sichtbar am Revers seiner abgeschabten Jacke. „Hier bleibe ich, bis die Stadt den Familien eine dauerhafte Lösung angeboten hat“, sagte er zum Äußersten entschlossen. Nach vierstündigem Sit-in wurde der streitbare Pfarrer vom Kabinettschef des Premierministers empfangen. Um Mitternacht gab die Stadt Paris schließlich nach: Tibéri verpflichtete sich, die Obdachlosen solange in möblierten Hotels unterzubringen, bis Wohnungen gefunden seien. 19 Familien wird nun geholfen. Doch im Großraum Paris leben 400.000 Menschen unter unzumutbaren Bedingungen, rund 20.000 haben gar keine feste Wohnung. Zugleich gibt es in Paris 210.000 Zweitwohnungen, die immer oder überwiegend leerstehen. Somit ist jede sechste Wohnung in der Stadt ungenutzt. Bettina Kaps