Stahlkrise im AKW

23 Risse in Rohren des Siedewasserreaktors Ohu gefunden / Gefahr war Behörden bewußt / Schaden ist offensichtlich betriebsbedingt  ■ Von Hermann-Josef Tenhagen

Berlin (taz) – Das bayrische Umweltministerium hat im vergangenen Jahr russisches Roulett mit der Bevölkerung im Umkreis des Atomkraftwerks Ohu 1 gespielt. Schon bei der Jahresrevision des Reaktors im Sommer 1992 war der schlechte Zustand von Rohrsystemen aus Austenitstahl in dem AKW aufgefallen. Die Rohre, in denen jetzt 23 zum Teil tiefe Risse gefunden worden sind, böten an der Stelle, wo sie eingesetzt wurden, „erfahrungsgemäß schlechte Voraussetzungen für austenitische Stähle“, sagte Ministerialdirektor Josef Vogel vom bayrischen Umweltministerium der taz. Doch ausgetauscht wurden die Rohre erst bei der diesjährigen Revision im Juli und August.

Das sparte den Betreibern Bayernwerk und Isar-Amper-Werke viel Geld. Die hatten nach eigenen Angaben ohnehin vor, in diesem Jahr die Rohrsysteme auszuwechseln. Hätten sie die maroden Rohre schon im vergangenen Jahr ohne Vorbereitung auswechseln müssen, wäre ein zusätzlicher mehrmonatiger Stillstand des Atommeilers die Folge gewesen – mit entsprechenden Einnahmeausfällen. Neue Rohre mit all den erforderlichen Qualitätssicherungen sind nur innerhalb mehrerer Monate zu beschaffen. Das Atomkraftwerk Brunsbüttel in Schleswig-Holstein ist nach ähnlichen Rißbefunden im Frühjahr stillgelegt worden und soll bis zum Austausch der Rohrsysteme nicht wieder in Betrieb gehen.

Nach dem Austausch der betroffenen Pumpen- und Rohrsysteme für rund 50 Millionen Mark und einer gründlicheren Überprüfung der anderen Austenitrohre sind die bayrischen Behörden nach Vogels Angaben jetzt zuversichtlich, daß die Leitungen des Siedewasserreaktors Ohu zumindest innerhalb des Reaktordruckbehälters rißfrei sind. „Wir haben diese Rohre zu 100 Prozent untersucht“, eine Gründlichkeit, die früher nicht üblich war. Man habe sogar einzelne unversehrte Schweißnähte herausgesägt und untersucht: keine neuen Befunde. In den ausgewechselten Rohrteilen waren dagegen Risse gefunden worden, die bis zu 16 Zentimeter lang und bis zu 9 Millimeter tief bei einer Rohrdicke von maximal 12 Millimetern waren.

Gründlicher waren die neuen Untersuchungen auch noch in einer anderen Hinsicht. Waren bisher die Schweißnähte nur geröntgt worden, haben die Bayern in Ohu diesmal auch bei dünneren Rohren das Ultraschallverfahren angewandt. Das neue Verfahren habe die Risse wesentlich eher gezeigt. Einer der Prüfer habe nach der Ultraschalluntersuchung sogar eingeräumt: „Jetzt erkenne ich auch auf dem Röntgenfilm einen Anriß.“ Konsequenz der Bayern: Künftig sollen solche Prüfungen nur noch zu zweit, nach dem Vier-Augen- Prinzip erfolgen.

Konsequenzen für alle Siedewasserreaktoren

Der amtliche Optimismus im bayrischen Umweltministerium verschleiert die wirkliche Brisanz der Risse von Ohu. Im Ministerium geht man nämlich mittlerweile davon aus, daß „einiges dafür spricht, daß diese Risse betriebsbedingt sind“. Vielleicht wichtigster Hinweis: Bei den Prüfungen im vergangenen Jahr waren zwei Risse entdeckt worden, die dann, so Ministerialdirektor Vogel, „ausgebessert“ wurden. Das half aber nicht: Eine der beiden ausgebesserten Schweißnähte wies bei der Jahresrevision 1993 schon wieder einen Riß von 10 Millimeter Länge auf. Offensichtlich ist in allen vier bundesdeutschen Siedewasserreaktoren (Brunsbüttel, Würgassen, Philippsburg 1 und Ohu 1) auf die Austenitstahlrohre kein Verlaß. Sie müßten dringend ausgewechselt werden. Atomkraftgegner und die Landesregierung in Schleswig- Holstein hatten nach den Rißbefunden von Brunsbüttel eine solche Überprüfung verlangt, waren aber damit nicht durchgedrungen.

Auch jetzt sperren sich Bundesumweltminister Klaus Töpfer und seine Chefberater von der Reaktorsicherheitskommission noch gegen die Erkenntnis. Müßten sie doch eingestehen, daß die Atomindustrie offenbar nicht über sichere Materialien für bestimmte sicherheitsrelevante Bauteile in Siedewasserreaktoren verfügt. Die jetzt rissig werdenden austenitischen Edelstähle waren vor rund 10 Jahren mit einem Aufwand von 1,5 Milliarden Mark nachträglich in die Meiler eingebaut worden, weil man den zuvor installierten Stahlrohren auch nicht mehr trauen konnte.

Statt flächendeckend alle austenitischen Bauteile zu untersuchen, will man auch in Bayern lieber wieder auf das nächste Jahr warten. Zum Ende der Revision in Ohu 1 haben die AKW-Betreiber wie schon traditionell mit den Beamten des genehmigenden Umweltministeriums und dem TÜV zusammengesessen, um über das weitere Vorgehen zu beraten. Das Ministerium hat nur angeordnet, daß von den Betreibern demnächst „neue Vorschläge über Art und Umfang neuer Prüfverfahren vorgelegt werden müssen“. Die Prüfprogramme für Austenitstähle sollen optimiert werden und vor dem nächsten normalen Stillstand in einem Jahr sei ein weiteres Sonderprüfprogramm vorzulegen – die Betreiber können ja schon mal neue Rohre ordern.