Zeigen, daß es auch andere Deutsche gibt

■ SchülerInnen der Reinickendorfer Thomas-Mann-Oberschule halfen im polnischen Wroclaw bei der Restaurierung des alten jüdischen Friedhofes / Arbeitseinsätze sollen fortgesetzt werden

Es ist schon merkwürdig: Polen ist nicht einmal 100 Kilometer entfernt, doch scheint es in der Vorstellung der Berliner keine Rolle zu spielen. Schüleraustauschprogramme von Berliner Schulen laufen mit England, Frankreich und den USA – aber so gut wie gar nicht mit osteuropäischen Ländern. An der Thomas-Mann- Oberschule in Reinickendorf, die mitten im Märkischen Viertel liegt, soll das allerdings anders werden. Dort versucht man eine Annäherung an den östlichen Nachbarn Deutschlands, organisiert Fahrten nach Krakau und Auschwitz, unterhält Verbindungen nach Oberschlesien, nach Stettin. Außerdem unternahm im September zum ersten Mal eine Schülergruppe eine mehrtägige Reise nach Wroclaw (Breslau), um dort bei der Restaurierung des alten jüdischen Friedhofes zu helfen.

Einer der beiden Lehrer, unter deren Leitung die elfköpfige Gruppe im Alter zwischen 18 und 20 Jahren nach Wroclaw fuhr, ist Eckhard Rieke. Er hat den Friedhof schon mehrmals besucht, zuerst vor etwa sechs Jahren, anläßlich einer SPD-Fahrt. Unter den SPD-Genossen (zu denen Rieke nicht gehört), war der verfallene Friedhof wohlbekannt: Nicht nur Walter Momper und Harry Ristock, auch Helmut Schmidt besuchte dort das Grab von Ferdinand Lassalle, dem Gründer der ersten deutschen Arbeiterpartei. Lassalles Grab war denn auch eines der ersten, das restauriert wurde. Der Großteil der rund viereinhalb Hektar großen Begräbnisstätte, die gegen Ende des Zweiten Weltkrieges stark beschädigt wurde, ist jedoch verfallen.

Für Eckhard Rieke sprachen mehrere Gründe für die Aktion seiner Schule: „Erstens ist es ein jüdischer Friedhof, also spricht man das deutsch-jüdische Problem an. Dann befindet er sich in Polen, da hat man das schwierige deutsch- polnische Verhältnis.“ Dazu kam noch ein ganz persönlicher Grund: „Es ist wunderbar, gemeinsam eine körperliche Arbeit zu machen. Da ist man nicht mehr der Lehrer, da ist man gleichberechtigt.“ In einem solchen Klima, sagt Rieke, entstünden die interessantesten Gespräche, auch einmal abseits der Schule. So kam er mit den verschiedenen Schülern auf Leben und Sterben, auf Ost und West, auf die Vergangenheit des Sozialismus oder auf Religion zu sprechen.

Den Schülern ist vor allem der geringe Lebensstandard in Polen aufgefallen. Zwar war die fünftägige Fahrt sehr billig, nicht zuletzt durch die Übernachtungen im Breslauer Studentenhotel, doch Dusche und Toilette befanden sich für Westler in offensichtlich erschreckendem Zustand. Hendrik, der in Köpenick aufgewachsen ist, beschreibt seine Eindrücke: „Gerochen hat es wie im Winter in Ostberlin.“ Alle sind sich einig, daß die Polen, die man getroffen und gesprochen hat, „sehr, sehr freundlich“ waren. Allerdings hält man die nicht unbedingt für repräsentativ. Besonders die in Breslau massenhaft auftretenden nationalistischen Skinheads – „viel mehr als in Berlin“ – haben den Schülern zu denken gegeben. Und immer wieder, so berichten sie, seien sie auf juden- oder deutschfeindliche Schmierereien getroffen.

Mit viel Energie, berichtet Lehrer Rieke, haben sich die Jugendlichen an die Restaurierung des um 1850 eröffneten Friedhofes gemacht und dabei einen kleinen Teil wiederhergerichtet. Dieser Teil wird seitdem die „Berliner Allee“ genannt. Bäume und Gestrüpp mußten entfernt, Grabsteine aufgerichtet, Inschriften zusammengesetzt werden. Dabei stießen die Schüler auf Waffen und Munitionsteile aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges, als Breslau kurz vor Kriegsende zur Festung erklärt wurde. Es fand sich aber auch mal ein Totenschädel, der aus einer aufgebrochenen Gruft stammt.

Die Fahrt der Schüler soll kein Einzelfall bleiben. Im nächsten Jahr, so ist es an der Thomas- Mann-Oberschule vorgesehen, sollen deutsche Schüler gemeinsam mit polnischen Schülern auf dem Friedhof arbeiten. Eckhard Rieke hofft bei seinen Schülern auf den positiven Effekt, daß über die Erfahrung mit den Polen eine Beziehung zum Land entsteht. Im Oktober jedenfalls, wenn die Schule eine weitere Fahrt nach Auschwitz unternimmt, wollen die meisten der Gruppe wieder dabeisein. Eckhard Rieke: „Sie wollen zeigen, daß es auch andere Deutsche gibt.“ Martin Böttcher