■ Normalzeit
: Einreißen, aufbauen

Einmal kam mir auf der Friedrichstraße ein Bauarbeiter entgegen und bat um Feuer. Er war Holländer und auf der großen Baustelle Friedrichstadt- Passagen beschäftigt. Die Sonne schien. Er hatte es nicht eilig. Wir sprachen über das gerade zuvor dort abgerissene, schon halb fertig gewesene Kaufhaus, dessen Beseitigung ebenfalls von einer holländischen Firma erledigt worden war. „Einreißen, aufbauen, das ist egal“, meinte er.

Wie zur Erläuterung seiner kühnen These erzählte er mir eine Geschichte: In seiner Nachbarschaft hätte früher einmal ein alter Mann gewohnt, der gegen die Nazis gekämpft hatte. Als die Deutschen in Holland einmarschierten, flüchtete der Mann nicht nach Westen, sondern nach Osten: Mit einem falschen Paß arbeitete er als Binnenschiffer in Deutschland.

Überall, wo er hinkam, lernte er ein Mädchen kennen, aber all diese Orte wurden zur gleichen Zeit auch von englischen Bombern angegriffen und zerstört. Ihm geschah nie etwas, außer daß er einige Male geschlechtskrank wurde. Der Mann kam gegen Ende des Krieges auch nach Berlin. Zuletzt trieb es ihn nach Gießen, das dann auch prompt zerstört wurde. Da war sich der Mann sicher, daß er für die Zielauswahl der englischen Bomberflotte gewissermaßen verantwortlich gewesen war.

Dieser Gedanke war so erhebend für ihn, daß er augenblicklich bei der Binnenschifferei aufhörte und Schriftsteller wurde. Unter anderem schrieb er dann auch ein Buch über seine Kriegserlebnisse und seine damalige Geheimverbindung zur englischen Bomber- Kommandozentrale. Ein amerikanischer Schriftsteller machte aus dieser Geschichte später ein noch dickeres Buch und verdiente sehr viel Geld damit.

Ob er auch schreibe, fragte ich den Holländer in einer Pause, da er sich eine neue Zigarette anzündete. „Nein, höchstens mal einen Brief nach Hause, an meine Frau“, sagte er. Er sei Bauarbeiter und verdiene gutes Geld: „Sonst wäre ich nicht hier, das können Sie mir glauben.“

Womit er, glaube ich, sagen wollte, daß ihm Berlin ziemlich am Arsch vorbeiging, wie man so sagt. Helmut Höge

Wird fortgesetzt