Italien ohne Sonne

■ Hinter dem Pittoresken das Elend. Anna Maria Orteses Städtebilder aus Mailand

Fünfundzwanzig Jahre bauten die Mailänder an einem der größten und prunkvollsten Bahnhöfe Europas, einer Kathedrale aus Marmor, Stahl und Glas. Als die „Stazione Centrale“ 1931 fertig war, verkörperte sie die wirtschaftliche Potenz und die Zukunftshoffnungen der lombardischen Hauptstadt, die seit Anfang des Jahrhunderts immer entschiedener die Züge einer modernen Industriemetropole angenommen hatte.

In wehmütigen Feuilletons hat der Flaneur Delio Tessa in den dreißiger Jahren das alte Mailand im Augenblick des Verschwindens festgehalten, ehe es dem mit großer Energie und Brutalität vorangetriebenen Stadtumbau zum Opfer fiel. In den fünfziger Jahren kommt die Schriftstellerin Anna Maria Ortese, eben bekannt geworden durch ihre Schilderungen des neapolitanischen Lebens, in die Stadt und erhält den Auftrag, eine Zeitungsreportage über den Hauptbahnhof zu schreiben. Die Nacht, die sie dort in Begleitung eines Photographen zubringt, wird zu einer Reise in die Finsternis, zu den toten Seelen der Moderne.

Anna Maria Orteses Thema ist das Grauen hinter der teils pittoresken, teil großkotzigen Fassade des italienischen Großstadtlebens. Sie erlebt die „Stazione Centrale“ nicht als Ort des Aufbruchs, sondern als Endstation. Als Maschine, die gehetzte Massen in die italienische „Hauptstadt der Arbeit“ hineinpreßt: eine Szenerie, die an Fritz Langs „Metropolis“ erinnert. Zwischen den anonymen Menschenströmen wesen Untote, menschliches Treibgut wie die Emigranten vom Lande, die in der Stadt nicht haben Fuß fassen können, oder die alternde Prostitutierte, die keinen Freier mehr findet. Einer der Verlorenen, die gezeichnet von Angst und Hoffnungslosigkeit in der gewaltigen Bahnhofshalle umherirren, erklärt:

„Signore, wenn ich in Italien Hunger habe, so ist das ein Teil der Sehenswürdigkeiten. Wenn ich in Italien meine Frau verliere, so ist das eine Angelegenheit des Tourismus. Wenn ich in Italien durch völlig verbaute Straßen gehe und mich nach dem Meer sehne, wenn mein Zimmer zum Ersticken ist und ich umkomme vor Lärm, wenn ich, mit einem Wort, sterbe, so ist das ausschließlich Sache des Verbandes für Denkmalpflege. [...] Also verirrt sich das Denken, unartikuliert bleiben die Worte in der Kehle stecken, und der Wahnsinn bleibt noch die höflichste Art des Ausdrucks für einen Gentleman.“

Was Anna Maria Ortese in diesen und anderen Mailänder Städtebildern erzählt, ist nicht neu. Motive, die aus der älteren Metropolenliteratur, aus Schilderungen Londons oder Berlins vertraut sind, kehren bei ihr wieder: der Bahnhof als Ort der Moderne, die industriell geprägte Millionenstadt als Ort der Entfremdung; das moderne Leben als Sackgasse, Elend und Gleichgültigkeit als Symptome einer kranken Zivilisation.

An diesen Bildern beschädigten Lebens überzeugen die sichere Perspektive und die unaufdringliche Beschreibungskunst der Autorin. Sie berichtet aus der Sicht von Menschen, für die es im lichtdurchfluteten Italien keine Sonne gibt, keine Hoffnung. Sie beschreibt so knapp, präzise und doch farbig, wie man nur beschreiben kann, wenn einem die geschilderten Lebensumstände vertraut sind. Sie beschönigt nichts und verschweigt auch nicht ihren Widerwillen gegen das Elend. Ihre Prosa ist kunstvoll und poetisch, ohne die Gegenstände in einem falschen Glanz erscheinen zu lassen.

Leider ist die jetzt bei Hanser erschienene Auswahl von fünf Mailänder Texten sehr schmal ausgefallen. Und leider verschweigt der Verlag, daß vor vielen Jahren schon einmal eine Übertragung von Städtebildern der Autorin erschienen ist, die man mit viel Glück noch in Bibliotheken auftreiben kann. Anna Maria Orteses preisgekrönter Erzählungsband „Il mare non bagna Napoli“ wurde 1955 bei S. Fischer unter dem Titel „Neapel – Stadt ohne Gnade“ verlegt.

Bleibt zu hoffen, daß nicht wieder Jahrzehnte verstreichen müssen, ehe neue Bruchstücke aus dem umfangreichen Werk Anna Maria Orteses die deutschen LeserInnen erreichen. Michael Bienert

Anna Maria Ortese: „Stazione Centrale und andere Mailänder Geschichten“. Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner und Viktoria von Schirach. Carl Hanser Verlag, 100 Seiten, geb., 22 DM