Remis mit Billard-Queues

Zur Ausgrabung von Grabbes Früh- und Saufwerk „Herzog Theodor von Gothland“ in Stuttgart  ■ Von Arnd Wesemann

Ein Männlein steht auf der Bühne und wimmert. Steckt seinen Finger in den Arsch und schmiert's übers Gesicht. Das Männlein heult Rotz und Wasser. Sagte zuvor schon tapfer den heroischen Satz: „Nichts kann uns als holde Verzweiflung retten.“ Doch jetzt, am Ende, da die ganze Verzweiflung tatsächlich vorhanden ist, blank und rein, entblößt und erbärmlich, wimmert das Männlein wie ein Kleinkind in der Badewanne, in die es versehentlich geschissen hat. Quälender und reiner hat noch kein Schauspieler so in seiner Brühe aus Tränen, Scham und Angstschweiß gestanden wie dieser Stuttgarter „Theodor Gothland“, Manfred Meihöfer. Ganz nach George Tabori hat er nackt in seiner Badewanne gespielt: Fühle dich ein in eine schreckliche Situation aus frühster Kindheit ... Dann ging die Badewanne in Flammen auf, mit den Worten Peter Brooks: ... und bleibe ehrlich zu dir selbst.

Bei Brook hatte der 32jährige Kärntner Regisseur Martin Kušej einen Workshop belegt, auch George Tabori ist ihm kein Unbekannter, seine Magisterarbeit schrieb er über Robert Wilson. So lehnte er gleich die zweite Szene des Verzweiflungs-Dramas von Grabbe, „Herzog Theodor von Gothland“, nach Wilson an. Auf der Bühne liegen Billardkugeln. Langsam und drohend wird ein Kühlschrank mit eingebauter Herzkammer über die Bühne gerollt. Ein Krieg wird kommen. Der versammelte Fechtsaal trägt Billard-Queues wie Schwerter und bewegt sich nicht. Die Gattin Theodors, „Cäcilia“ Anne Tismer, macht ein stumpf-verzweifeltes Schreigesicht mit weit aufgesperrtem, blutverschmiertem Mund wie weiland Lena Stolze in Robert Wilsons Hamburger „Hamletmaschine“. So erprobt die neue, junge Regiegeneration sich an ihren Vätern.

Schon, weil es die gleiche Vaterprobe ist, an der sich auch Christian Dietrich Grabbe (1801–1836) versuchte, der Rächer der Weimarer Klassik, der Verhunzer der Goetheschen Scheinheiligkeit und der Lessingschen Theater-Patrouillen. Grabbe, der stets betrunkene Revoluzzer, beleidigte den heiligen Shakespeare, um den Schillers und Hebbels zu zeigen, wo die Glocke wirklich hängt: Ein Schnippen Othello hier, ein Spatel Titus Andronicus da – für die brodelnde Mixtur eines Nihilisten, der mit 21 Jahren in seinem Erstlingsdrama „Herzog Theodor von Gothland“ den finstren Satz verteidigte: „Verzweiflung ist der größte Gottesdienst“.

Grabbe hatte das zynische Zeug zu einem Voltaire und dessen „Candide“. Doch war er nicht nur ein geübter Säufer, sondern besaß auch einen erprobten Hang zu Übereifer und Selbstüberschätzung. „Ein holder Genius über meinem Leben“, so hebt biographisch treffend die Frank-Raddatz-Bearbeitung des Stücks an – mitten in Theodor Gothlands Badewanne. Grabbe freilich sponn sein Stück auf gut zweihundert Reclam-Seiten zu einem ursprünglich 18-Stunden-Werk weiter: Grund genug für die neuen Halbwilden des deutschen Theaters (wie Kruse, Castof, nun: Kušej), um es zu inszenieren, wenn auch kürzer. Das Drama, das zur Verzweiflung empor will, das in der Verzweiflung die absolute Höhe der Tragödie zu sehen meint, ist ein Vatermörder-Stück, in dem die Söhne sterben, einer nach dem anderen, wie durch den elektrischen Fleischwolf. Dessen Motor besteht aus einer klitzekleinen Lüge des Negers Berdoa. Sein intriganter Vorwurf eines angeblichen Brudermordes hätte sich allzu leicht aufklären lassen.

Aber der zu allem Böswill entschlossene Theodor Gothland verspürt wie Grabbe selbst keine Lust auf Aufklärung, sondern ist wild auf Krieg und Rache und auf all die Kinderspiele vom Schießen, Stechen und Hauen, die in verzweifelt langweiligen Zeiten immer nur ein Spiel geblieben waren. „Lieber träumen an der Brust des erklärten Feindes“, sagt Gothland. Und so wird blut'ger Theaterernst draus.

Ein Selbstläufer. Die Billardkugel zu Stückbeginn, die Queues als Schwerter, bilden bei Kušej einen klugen Theatertrick. Ein Spiel nach französischer Karambolageregel. Gewinnen kann nach diesem Billard bekanntlich, wessen Kugel alle anderen getroffen hat: acht Kugeln zählt die Bühne, acht Leichen werden auf die Bretter geschleppt. Sieger dieses Spiels aus Glück und Geschick wird allerdings der Vater der beiden in Brudermord verstrickten Theodor und Friedrich. Sein Trick: Der Alte hat sich wie in einem Schachspiel mit seinem König verbündet, rottet sein eigenes Geschlecht aus und fuhr mit Billard gegen Schach unterschiedliche Waffen auf – der deutliche Sieg des Königsspiels.

Der mähnige „alte Gothland“ Bernhard Baier steht am Schluß mit seinem Schach-König etwas einsam auf der kahlblauen Bühne – plötzlich verzweifelt, plötzlich erleuchtet; sein zynischer „König Olaf“ Wolfgang Höper daneben als Mischung aus pflichtversessenem Mielke und in Kautschuck gehülltem Sherlock Holmes. Treffend kombiniert er: Macht sei doch ein recht wunderbares Instrument zur Selbstvernichtung. Und Verzweiflung nur der Abglanz wahrer Sterblichkeit. Macchiavelli ist ein Musterknabe gegen diese beiden Alten, die ihre Kinder wie die Bauern eines Schachspiels geopfert haben.

Über die kluge Andeutung des Billards als Theaterbild vergaß Martin Kušej allein, auch die wahre Karambolage aus dem Stück herauszukitzeln und es wie ein Schachspiel auch durchzuhalten. Zusammen mit seinem Bühnenbildner Martin Zehetgruber verliebt er sich statt dessen über den Einfall hinaus in Theatereffekte, die das Publikum vor dem Schlachtgemälde wachhalten sollen.

Operntheater im Stuttgarter „Kleinen Haus“: Über 50 glatzköpfige Statisten spielen Theodors verzweifeltes Kriegs- und Racheheer. 24 nackte Statisten hängen nach Ruch und Verrat wie abgestürzte Fallschirmspringer im Bühnenhimmel. 28 Metronome klackern lustig zu Theodors analem Hilfegekeuch, als ihn seine finale Verzweiflung – zurück in seiner Maratschen Badewanne – vollends sprachlos werden läßt. Der strategische Mord- und Totschlag endet schachmatt; zu lange bevor der Vorhang fällt. Schleppend bis zur schlechten Laune geht das Stück auf dem Zahnfleisch, rappelt sich mit flacher Seelenlehre nochmals und nur nochmals auf. „Theodor Gothlands Sohn“ Andreas Schlager ist zum fixierten Erotomanen geworden, der seinem Vater gemäß Scheiße wie Gold frißt. Auf dem Schachbrett ist er ein verlorener Springer; und so wie er fällt, verspricht auch kein weiterer Schachzug Rettung auf ein geschickteres, denn ein stumpfes Ende. Auch nicht der „Diener Gothlands“, Werner Fritz, der mit einem verlorenen Brief auftritt, ein Läufer also, und dafür mit einem zum Paket verschnürtem Gesicht wieder zurück in den Orchestergraben gestoßen wird. Und auch kein ironieglänzender Song wie „Oh yeah, the future looks bright“, keine munter blinkenden Baustellen- Lampen auf dem Schlachtfeld der Philosophie – nichts hilft Kušej, die fatale Theaterverzweiflung schließlich vor einem bitteren Verzweiflungsgestöhn in den Theaterrängen selbst zu bewahren. Aus dem eingangs lustigen Rabbatz beim munteren Bauernschlachten wird ein Remis ohne Eingeständnis. Ein knapp verlorener Theaterschachzug eines Theaterjüngsten, der es bis zu Grabbe schon ziemlich weit gebracht hat.

Christian Dietrich Grabbe: „Herzog von Gothland“. Regie: Martin Kušej; Bühne: Martin Zehetgruber; Kostüme: Aglaia Lang. Weitere Vorstellungen: 2.; 17; und 31. Oktober im Schauspiel Suttgart