Menschliche Wärme für die traumatisierte Seele

■ Interview mit der Psychotherapeutin Gertrud Würbel über ihre Arbeit mit bosnischen Kindern in dem Flüchtlingsprojekt „Begegnung“ im österreichischen Vorarlberg

taz: Frau Würbel, jedes zweite bosnische Flüchtlingskind, so berichtet das Kinderhilfswerk Unicef, hat lebensbedrohliche Situationen erlebt, jedes siebte hat Menschen sterben sehen, jedes zehnte wurde Augenzeuge von Folterungen oder Morden. Wie verarbeiten das die Kinder?

Gertrud Würbel: Wenn die Kinder zu uns kommen, sind sie entweder verstört, in sich gekehrt und überaus scheu oder aber – die andere Variante – aggressiv, bockig, störrisch. Die Mütter klagen anfangs, daß die Kinder sie nicht einen Moment aus den Augen lassen und nicht auf Belehrungen reagieren. Die Mütter haben nicht verstanden, daß sie mit viel Geduld immer wieder sagen müssen: Ich komme gleich wieder, ich bin ja da, jetzt fallen keine Bomben mehr. Die Kinder wollen es zehn-, zwanzigmal am Tag hören. Nach einigen Wochen sind die ersten übergroßen Angstzustände abgeklungen. Aber auch nach eineinhalb Jahren erzählen die Mütter noch, daß die Kinder sich in der Nacht an ihre Körper klammern, nachts aufschrecken und schreien. Und wenn etwas assoziativ im Zusammenhang steht mit dem Kriegsgeschehen, wenn etwa eine Sirene heult oder hupende Autos vorbeifahren, dann kommen die Kriegserlebnisse wieder hoch.

Reden Kinder darüber?

Ich bin sehr schnell in Kontakt zu den Kindern gekommen durch das Medium des Schreibens. Ich habe die Jungen wie die Alten ermutigt, ihre Erlebnisse niederzuschreiben. Das haben sie auch gern getan, weil sie das Gefühl hatten, indem sie die österreichische Bevölkerung auf ihr Schicksal aufmerksam machten, könnten sie etwas tun für ihre Heimat. Aus dieser Gruppenarbeit entstanden ganz authentische, rührende Texte von Kindern. Da haben wir viel erfahren, was sie uns im direkten Gespräch nicht hätten mitteilen können.

Worüber schreiben die Kinder?

Sie schreiben von der Trennung. Sie haben ja das Liebste verloren: das Zuhause, die Freunde, den Hund, den Papagei – alles, was ihnen wichtig war, mußten sie zurücklassen.

Können Kinder vielleicht mehr verkraften als Erwachsene? Sehen sie bestimmte Greuel gar nicht, oder vergessen sie schneller wieder?

Das kommt sehr darauf an, was das Kind nach der Traumatisierung erlebt – ob es in eine kalte, unfreundliche Atmosphäre gelangt oder in eine Umgebung, in der es sich angenommen fühlt. Die Tatsache, daß sie jede materielle Unterstützung bekommen, die sie brauchen, ist da sehr wichtig. Die andere Seite ist, daß die Mütter völlig überfordert sind, ihren Kindern seelisch beizustehen, weil die einzige Frage, die sie selbst seelisch am Leben hält, die ist: Lebt mein Mann noch, wie geht es ihm, muß er hungern? Ich habe oft festgestellt, daß die Mütter nicht fähig sind, mit ihren Kindern zu spielen oder auf sie einzugehen, weil sie in Gedanken in der Heimat sind. Die Kinder reagieren dann oft sehr chaotisch mit einer regelrechten Zerstörungswut.

Das heißt, daß Kinder anders reagieren als Erwachsene?

Ja. Ich glaube allerdings, daß es in unserem Projekt den Kindern besser geht als den Erwachsenen. Sie wurden sofort in das österreichische Schulwesen integriert und sind so in einen Arbeitsrhythmus eingebunden. Sie haben eine neue Aufgabe, haben Außenreize, die sie ablenken und mitreißen, während die Erwachsenen ihre Tage oft mit nichts als Warten und Essen verbringen.

Das heißt, allein schon so etwas Simples wie der Schulbesuch kann über die traumatischen Erfahrungen hinweghelfen?

Das ist ungeheuer lebenswichtig, das gibt ihnen ein Stück Normalität zurück.

Können Sie sich vorstellen, daß die Kinder die Greuel des Krieges je vergessen?

Nein, so etwas kann man nicht vergessen. Das soll man auch nicht vergessen. Aber wenn das Leid, das einem angetan wurde, die Verzweiflung und der Haß nicht in einer menschlichen Beziehung aufgearbeitet werden können, dann trägt man unbewußt immer das Vertraute weiter – auch wenn das Vertraute Greuel und Schrecken sind. Das ist ja der Grund, warum es überhaupt Psychotherapie braucht.

Aber wie kann Psychotherapie Menschen helfen, die eine andere Sprache sprechen und aus einem anderen Kulturkreis kommen?

Wir sind auf Übersetzer angewiesen, und das verändert natürlich die Differenziertheit und Direktheit im emotionalen Kontakt. Doch viele Dinge kann man auch nonverbal vermitteln, etwa das Gefühl: Ich bin bereit, deine Schrecken anzuhören, ich bin bereit mitzuempfinden, ich bin bereit, es auszuhalten, wenn du es aushältst, ich biete dir meine Begleitung an. Oft sind ja auch die Gewalterlebnisse so massiv, daß einem die Worte fehlen, ganz egal in welcher Sprache. Da kann man einfach nur noch emotional präsent sein und diesen Beziehungen die Treue halten. Allein das hat schon eine heilsame Wirkung. Das Trauma von Vergewaltigung, von Demütigung, von Erniedrigung, von Beschämung können wir sicher nicht heilen. So ein Bruch in der Lebenslinie wird das Gefühl eines Menschen für immer verändern. Aber ich glaube, wenn die Kinder auf Menschen stoßen, denen sie wieder vertrauen können, wird das Trauma nicht mehr diese schädigende Wirkung haben – wenn es auch parallel in diesem Menschen immer mitlebt.

Wenn schon die Aufnahme von Flüchtlingen als Zumutung angesehen wird, muß da ihre psychotherapeutische Betreuung nicht als Luxus gelten?

Das genau ist das Problem. Die Politik mißt unserer Arbeit überhaupt keinen Stellenwert bei. Dabei reicht es einfach nicht, den Menschen ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen zu geben. Die Flüchtlinge brauchen vor allem menschliche Beziehungen, sie brauchen das Gefühl: Ich bedeute etwas. Das ist ungeheuer wichtig, wie Brot für die Seele.