■ Hilfe für die Augenzeugen des Schreckens
: "Kinder als Opfer von Krieg und Verfolgung" ist Thema einer internationalen Konferenz, auf der Kinderärzte, Psychologen und Therapeuten nach Wegen suchen, wie sie traumatisierten Kindern helfen ...

Hilfe für die Augenzeugen des Schreckens

Wenn die neunjährige Maria aus Guatemala malt, dann sind auf dem Papier Soldaten und Menschen mit abgehackten Köpfen zu sehen. Bei der achtjährigen Palästinenserin Sahart füllt ein Frauengesicht das Blatt. Die Frau mit aufgerissenem Mund hält sich die Augen zu. „Tränengas“ hat Sahart dieses Bild genannt. Huyngh aus Vietnam hat ein riesiges Schiff gemalt. Von der Reling führt eine Leiter zu einem Boot herunter mit ameisenkleinen Menschen darin: das Boot, in dem Huyngh wochenlang auf offener See trieb, bevor ihn ein französischer Frachter aus dem Meer fischte. Die Zeichnungen sind Dolmetscher für das, was diese Kinder mit dem Mund nicht sagen können, weil es zu unaussprechlich ist. Die Bilder öffnen den Blick in eine Welt, die wie eine zweite, verdeckte Realität hinter der bunten Scheinwirklichkeit von lachender Kinder-Reklame und Volksweisheiten von „der schönsten Zeit im Leben“ liegt: Weltweit, so schätzt das UNO-Flüchtlingskommissariat, sind mehr als 11 Millionen Kinder und Jugendliche auf der Flucht. In den Kriegen der achtziger Jahre sind mehr als 1,5 Millionen Kinder ums Leben gekommen. 12 Millionen haben durch Krieg und politische Verfolgung ihr Zuhause verloren. 5 Millionen leben in Flüchtlingslagern.

Kinder und Jugendliche sind Opfer einer weltweiten Katastrophe, die durch keinen Wirbelsturm, keinen Vulkanausbruch, keine Flutwelle verursacht wurde. Die Verursacher sind Menschen, präziser gesagt: Männer. Seit Beginn dieses Jahrhunderts sind die von ihnen geführten Kriege immer weniger Schlachten zwischen verfeindeten Armeen, sondern Kämpfe gegen Frauen und Kinder. Sie werden zum Faustpfand, um den Gegner zur Aufgabe zu zwingen. Kinder sind Vertriebene, Opfer und Augenzeugen von Greueltaten, Vergewaltigungen und Demütigungen. Daß diese Schreckenserlebnisse von Menschen verursacht wurden, macht sie zum unauslöschlichen Trauma. Das Gefühl, nicht mehr heimisch zu sein in dieser Welt, aber auch das Gefühl von Schuld und Rache frißt sich im Innern ein.

Wie kann man diesen Kindern helfen? Wie beruhigt man sie? Wie lindert man ihre Alpträume, ihre Selbstzerstörung, ihr übergroßes Bedürfnis nach Anpassung und Versöhnung? Wie bricht man ihr oft jahrelanges Schweigen über das Geschehene auf? Und wie schützt man sie davor, Haß, Gewalt und Ungerechtigkeit, die sie erlitten haben, zum Lebensmuster für die eigene Zukunft zu machen? Vier Tage lang beschäftigen sich jetzt Psychologen, Kinderärzte und Therapeuten aus aller Welt mit diesen Fragen. Rund 500 Experten sind zu dem Kongreß „Kinder als Opfer von Krieg und Verfolgung“ nach Hamburg gekommen, der heute zu Ende geht.

Es ist das erste große internationale Treffen dieser Art. Daß es gerade in Deutschland stattfindet, ist eine bewußte politische Entscheidung. „Wir wollen“, sagt Professor Peter Riedesser, Organisator des Kongresses und Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie Eppendorf, „der Öffentlichkeit mitteilen, was die Nazis auch noch bei der zweiten und dritten Generation angerichtet haben.“ Wie kaum ein anderes Wort ziehen sich denn auch die Begriffe „Shoah“ und „Holocaust“ durch die Diskussionen und Workshops. Die traumatischen Erfahrungen derer, die als Kinder und Jugendliche Flucht, Konzentrationslager und die Vernichtung ihrer Familie überlebten, sind noch heute für Wissenschaftler und Praktiker die eindringlichsten Beispiele dafür, welche seelischen Verletzungen die von Menschen verübten Greuel hinterlassen. Mehr als ein Leben lang, denn das Trauma wirkt oft auf die nächste Generation weiter: auf die Kinder der Opfer, aber auch die der Täter. Das zeigen Berichte wie der des Therapeuten James M. Herzog aus den USA oder die Erfahrungen von Dan Bar-On aus Israel, der gerade eine atemberaubende Kooperation begonnen hat: die gemeinsame therapeutische Aufarbeitung des „Holocaust“ mit den Kindern von Opfern und Tätern.

Das Trauma tritt bei den Kindern oft nur chiffriert zutage, häufig erst nach Jahren. Da ist der 17jährige Mohammed aus Kurdistan, den seine Eltern auf den Weg ins Exil schickten, weil er heimlich mit der PKK zusammenarbeitete. Jetzt sitzt Mohammed in Hamburg und tut sich Gewalt an: Er reißt sich die Haare aus, droht, sich aus dem Fenster zu stürzen. Erst nach langen Gesprächen wird deutlich, daß der Junge unter Schuldgefühlen gegenüber seinen Eltern leidet. Aus der Ferne glorifiziert er sie, dennoch ist er enttäuscht, daß sie ihn weggeschickt haben. Oder da ist das kleine Mädchen im Flüchtlingscamp in Kroatien, das zwanghaft das eine Bild ins Gedächtnis holt: „Ich habe immer die Flammen in meinem Auge.“

„Das Trauma, unter dem die Kinder leiden, ist sehr ähnlich“, hat James Garbarino aus Chicago beobachtet, der die minderjährigen Opfer von Krieg und Verfolgung in Kambodscha, Nicaragua und Mosambik beobachtet hat. „Am schlimmsten geht es denen, die sich selbst nur als Opfer sehen.“ Garbarino macht auf einen anderen Aspekt aufmerksam, dem sich eine Arbeitsgruppe des Kongresses widmet: Zusätzlich zu den Kindern, die vor Kriegen und Verfolgung auf der Flucht sind, leben Millionen auf den Straßen der Metropolen – auf der Flucht vor ihren Familien oder vor wirtschaftlicher Not. Immer häufiger auch sind Kinder der alltäglichen Gewalt in ihren eigenen Städten ausgesetzt. Auf seine Frage, was sie denn wohl mit 35 Jahren sein würden, erhielt Garbarino von Jugendlichen in Chicago oft die eine Antwort: tot.

Und noch ein anderer Auslöser des Traumas macht den Therapeuten Sorge: Immer häufiger sind Kinder in Kriegen auch Täter. In Mosambik etwa, so fand das Kinderhilfswerk Unicef 1989 heraus, wurden 64 Prozent der Kinder von einer der Bürgerkriegsparteien entführt. 28 Prozent von ihnen wurden zu Soldaten ausgebildet. Opfer und Täter stehen dabei unter dem Risiko, auf das Erlebte selbst mit Gewalt zu reagieren – eine Erfahrung dieses Kongresses, mit der, ganz aktuell, die Friedensprozesse im Nahen Osten und in Südafrika noch zu kämpfen haben werden. In beiden Regionen waren die Kinder die kleinen Heroen, vom Aufstand für die gerechte politische Sache gefährlich immunisiert für das Empfinden von Leid.

Was können ein paar hundert Psychologen, Therapeuten, Ärzte ausrichten gegen millionenfaches Leid von Kindern? Den wenigen Betreuern können die professionellen Helfer zumindest beiseite stehen, oft mit ganz einfachen Mitteln wie bloßer Zuwendung. Aber selbst dann, so die Experten, „werden sich die Wunden niemals schließen“. „Wir müssen“, sagt der Therapeut David Becker aus Chile, „das individuell erlittene Trauma zum gesellschaftlichen machen. Doch wir können das Leid eher teilen als heilen.“