Hysterischer Pointillismus

Lee Strasbergs Autobiographie „Ein Traum der Leidenschaft“  ■ Von Gerhard Midding

Ist es eine Autobiographie oder keine? Der Abbildungsteil in der Buchmitte illustriert entscheidende Wegmarken aus Leben und Werk Lee Strasbergs; der Waschzettel indes muß die biographischen Eckdaten liefern, das Buch selbst tut es nicht. Es versteht sich vielmehr als eine Entwicklungsgeschichte des Lebenswerks dieses Schauspiellehrers: der „Methode“. Strasbergs Name wurde zum Synonym für diesen Schauspielstil, den er in den dreißiger Jahren zusammen mit Cheryl Crawford, Harold Clurman, Elia Kazan und anderen unterrichtete und den er auch nach dem Zweiten Weltkrieg im Actors Studio bis zu seinem Tod 1982 fortführte.

Angesichts der Angriffe und Kontroversen, die die „Methode“ auch heute noch auslöst, ist „Ein Traum der Leidenschaft“ ein erstaunlich unaufgeregter, gar nicht defensiver Rechenschaftsbericht: ein Vermächtnis, geschrieben im Bewußtsein der eigenen Leistungen, dem Anteil an „den wichtigsten Neuerungen der Schauspielkunst und Theaterarbeit“ dieses Jahrhunderts. Also doch eine Autobiographie? Nein, eher ein selbsterrichtetes Künstlerdenkmal, das auch als Lehrbuch funktioniert.

Das klingt anmaßender, als es sich liest. Sehr lebendig rekapituliert Strasberg die Bildungsabenteuer seiner Jugend, die Theaterabende, in denen er die Duse, Jacob Ben-Ami und Jeanne Eagels auf der Bühne erlebte und eine erste Ahnung davon bekam, daß ein Schauspieler nicht einfach nur seine Rolle umreißt, sondern sich mit aller Intensität auf die Gefühlsregungen seiner Figur einlassen kann. Der junge Lee war damals noch weit davon entfernt, eine eigene Berufung fürs Theater in sich zu spüren, aber einige Fragen ließen ihn dennoch nicht los: Warum sind großartige Schauspieler nicht bei jeder Aufführung gleich gut? Gibt es keine Inspirationsquelle, die es einem Schauspieler ermöglicht, seine Rolle nicht nur beim ersten Spielen zu durchleben, sondern vielmehr auch danach immer aufs neue glaubwürdig die „Illusion des ersten Mals“ zu erzeugen? Strasberg begibt sich auf eine tour d'horizon der Schauspieltheorien seit dem 18. Jahrhundert, genauer gesagt: seit Diderot, wobei er von dem uralten Konflikt zwischen „Erleben“ und äußerlichem „Spielen“ ausgeht. Bei Stanislawski findet er die Grundlagen einer Methode der Kreativität, bei Brecht Anregungen durch das Epische Theater und in dem Stanislawski- Schüler Richard Boleslawski schließlich einen entscheidenden Lehrmeister, der ihm versichert, daß jedes Gefühl auf der Bühne aufgebaut und eingeübt werden kann. In der „Methode“ versuchte Strasberg Verfahren zu entwickeln, die es einem Schauspieler erlauben, wirklich zu empfinden und zugleich in völliger Selbstbeherrschung auf der Bühne agieren zu können, das Impulsive gleichzeitig zu kontrollieren und strukturieren. Basierend auf den Entdeckungen Stanislawskis, entwickelte er ein Übungsprogramm zur körperlichen Entspannung, Konzentration, zum Training des Wahrnehmungsgedächtnisses: die ersten Schritte, um zu einem schöpferischen Selbstgefühl zu gelangen. Ziel ist es dabei, einen solchen Grad der Konzentration zu erreichen, daß man in der Öffentlichkeit – vor dem Publikum, vor den Mitspielern – zum privaten, intimen „Moment“ findet.

In seinem Buch „Acting in the Cinema“ vergleicht James Naremore diesen Prozeß mit dem Häuten einer Zwiebel: Schicht um Schicht wird abgetragen, bis man am Ende echte Tränen vergießt. Das „Affektive“, das „Gefühlsgedächtnis“ bildet das Zentrum der Strasbergschen Lehre und ist zugleich ihr heikelster, umstrittenster Punkt. Die Nähe zur Psychoanalyse mag durchaus die Popularität der „Methode“ als Zeitströmung der US-Nachkriegsjahre erklären. Strasberg bestreitet, daß er sich für die emotionalen Erlebnisse, gar die Traumata seiner Schüler interessiere: Er umkreise diese vielmehr, erfrage Einzelheiten, Situationsdetails, um die Erinnerung seiner Schüler anzuregen. Immerhin brachten ihm seine quasi psychoanalytischen Probentechniken beinahe den Status eines Gurus, eines Therapeuten und Philosophen. Nicht zufällig begab sich der wehrloseste aller Hollywoodstars, Marilyn Monroe, zeitweilig unter seine Fittiche.

Überhaupt sind es die Filmschauspieler, die Strasbergs Nachruhm sichern. Seit seiner Gründung ist das Actors Studio zu einer rechten Star-Schmiede geworden: James Dean, Paul Newman, Robert De Niro, Jack Nicholson, Al Pacino und Harvey Keitel zählen zu seinen berühmtesten Alumni. (Marlon Brando, der Vorzeige- method actor der fünfziger Jahre, war übrigens nicht Strasbergs, sondern Stella Adlers Schüler.) Dies entbehrt nicht der Ironie, denn gerade auf der Leinwand offenbaren sich die Mißverständnisse, Widersprüche und Fehlbarkeiten der method. Stanislawski befürchtete seinerzeit, sein System könne womöglich nur im Rahmen des modernen, naturalistischen Dramas funktionieren. Die Methode taugt im Kino vornehmlich, wenn nicht gar ausschließlich für den Exzeß: Die klassischen method actors stellten mit Vorliebe zumeist faszinierende Neurotiker dar und entwickelten dabei eine Intensität, die sich mittlerweile nur noch im Hyperagieren erreichen läßt. Stanislawski wünschte sich, daß die schauspielerische Arbeit auf der Bühne unsichtbar bleiben solle, der Ausdruck sollte Vorrang vor der Rhetorik haben. Doch genau letztere ist es, die die Kamera einfängt. Während die Methode zur Essenz einer Situation finden will, befleißigen sich die Epigonen (man schaue sich nur noch einmal die letzten Filme Abel Ferraras an oder etwa „Reservoir Dogs“) indes eines hysterischen Pointillismus, bei dem Naturalismen en gros aus ihnen hervorbrechen. Den Konflikt zwischen „innerem Erleben“ und „äußerlichem Spielen“ hat die Methode keineswegs gelöst, hat sich im Gegenteil heillos in ihn verstrickt. Denn wer glaubt einem Schauspieler, der einem unentwegt die Virtuosität seines Spiels vor Augen hält?

Lee Strasberg: „Ein Traum der Leidenschaft (A Dream of Passion). Die Entwicklung der Methode“. 248 Seiten, 36 Abbildungen. Mit einem Vorwort von George Tabori