Betr.: "Cinema"

Die Graphiken auf den heutigen Kinoseiten enstammen der sorgsam bebilderten Schweizer Filmzeitschrift „Cinema“, die ungerechterweise in Deutschland bislang nur von einem kleinen Club goutiert wird.

Die Nummer 38 sucht das Thema „Filmschauspielerei“ nach Unebenheiten und undichten Stellen ab. Ist es wirklich so grandios, daß sich Robert De Niro in „Raging Bull“ seine Rolle im wahrsten Sinne des Wortes einverleibt und fünfzig Kilo zunimmt? Ist dieses völlige Einswerden mit der Figur nicht grobschlächtiger als Interpretationen, die die Risse im Gebälk sichtbar werden lassen? Sein oder Darstellen – das ist hier die Frage. Muß die „Kunst“ aus dem Wort Schauspielkunst verschwinden, weil das System, die Hollywood- Maschine, sich ihrer schämt? Weil sie lieber Chamäleons züchtet als Verwandlungskünstler?

Die Graphiken betonen eben das Moment des Mit-sich-eins-Seins. Die scharf gezogenen Linien trennen wie Fallbeile ab, was an einer Figur doppeldeutig und sinister sein könnte. Dabei ist jede Filmfigur doch mindestens drei Leute: Stuntman, Synchronsprecher, literarische Vorlage ... Weil aber auch im Kino multiple Identitäten eine heikle Sache sind, produziert die Hollywood-Factory einen Exzeß an Eindeutigkeit, dessen Ultima ratio die völlige Verschmelzung zwischen Filmfigur und Privatmensch ist.

Durch das gesamte Heft zieht sich die Kritik am „Actors Studio“, das eben diese Verschmelzung zum Ziel hatte (auf Seite 16 rezensiert unser Autor Gerhard Midding die Autobiographie des Studiogründers Lee Strasberg). Der Prügelknabe gleich mehrerer Autoren ist Robert De Niro als die Inkarnation des „Method Acting“.

Der italienische Schauspieler Michael Baltrami erzählt, wie er De Niro auf dem Flughafen Milano-Linate traf und näher herantrat, um zu verstehen, was De Niro da vor sich hin nuschelte. „Kurz darauf bemerkte er mich und schaute mich hart und drohend an. Mit einer ärgerlichen Geste gab er mir zu verstehen, daß ich mich entfernen solle, daß er nicht gestört werden wolle. Gekränkt ob solcher Arroganz, fragte ich mich, wer dieser De Niro eigentlich zu sein glaubt. ... Später erfuhr ich, daß De Niro in Rom war, um in einigen Szenen von „Once Upon a Time in America“ von Sergio Leone in den Studios von Cinecittà zu spielen.

Jahre später sah ich den Film, und ich war mir sicher, daß jener, dem ich auf dem Flughafen begegnet war, nicht Robert De Niro war, sondern Noodles, die Rolle, die er in „Once Upon a Time“ verkörperte.“

Den Weg vom Über-Agieren der Stummfilmära unter Griffith über die Hochblüte der Filmschauspielkunst in den zwanziger Jahren (Asta Nielsen und Co) zum Nichtagieren im Zeitalter der schnellen Schnitte, die den Handlungsrhythmus vorgeben, zeichnet ein Gespräch zwischen „Cinema“-Herausgeber Alfred Messerli und dem Regisseur Fred van der Kooij nach. „Der Schnitt übernahm das Erzählen. ... Der Schauspieler hat in dieser Spieluhr, die der Tonfilm darstellt, die Aufgabe, neben dem Sprechen durch sein Erscheinen etwas Konstantes einzubringen, an das man sich halten kann in dieser Zentrifuge aus Musik, Dialog, Schnitt und Rhythmus.“

Neben Beiträgen von anderen Schauspielern wie Hans Zischler, neben filmhistorischen Überlegungen zu den verschiedenen Schauspielschulen und den Marktstrategien der Branche finden sich kleine Perlen wie ein Aufsatz von Salman Rushdie zum „Wizard of Oz“. Darin wird Judy Garlands sehnsuchtsvolles „Somewhere Over the Rainbow“ als echte Aufforderung zum Schritt aus dem Grau-Schwarz der festgezurrten Linien ins grün- rot-blaue Technicolor-Paradies, als Tritt über die Ufer apostrophiert. Camp, Exzeß, schamloser Kitsch als Tür ins Freie. mn

„Cinema“ (Nummer 38), Hrg. Alfred Messerli/Janis Osolin. Verlag Stroemfeld/Roter Stern. Postfach 180 147, Frankfurt am Main