Es löst die Zunge, aber benebelt nicht den Verstand

■ Die nachmittäglichen Qat-Runden gehören im arabischen Jemen ebenso zum Kulturgut wie in Deutschland das Kaffeekränzchen

Sie bilden eine feste Institution, die aus dem Leben der meisten Jemeniten wohl kaum wegzudenken ist: die maqiyal – die nachmittäglichen Qat-Sitzungen, in der das Leben draußen auf den Straßen für wenige Stunden die Luft anhält. Doch es ist nicht die Droge, die im Mittelpunkt steht, die grünen Zweige der Qatpflanze, die stundenlang widergekäut werden. Was der Kaffee fürs Kaffeekränzchen, das ist der Qat im maqiyal. Am Ende zählt eben doch nur das Happening.

Hier werden Meinungen ausgetauscht, gebildet, verändert oder erhärtet. Die Literatursalons des alten Europa sind wohl eher ein schwacher Vergleich für eine solche Institution. Wäre Montesquieu Jemenit gewesen, hätte er sicherlich von den vier Gewalten gesprochen, die es zu teilen gilt: Der ausführenden, gesetzesgebenden, der rechtsprechenden und eben der Gewalt des maqiyal.

Montags lädt der kuwaitische Botschafter zum Kau, dienstags treffen sich die wichtigsten Vertreter der Parteien, um ihre neuesten Vorschläge für die jemenitische Verfassung auszukochen: lange bevor sie sie im Parlament diskutieren. Mittwochs mümmelt man mit dem neuen Kulturminister, um die rechtliche Stellung der Frauen im neuen Familiengesetz zu erörtern. Sonntags wird im Menschenrechtsverein der Islamisten kauenderweise versucht, einen Streit um ein Stück Land außerhalb des Gerichts zu schlichten. Es wird so gut wie alles besprochen, verhandelt und ausgeklüngelt.

Auf einer Reihe von Sitzkissen, jeweils mit einem Polster zum Trennen des Platzes und Aufstützen des Armes, wird Platz genommen. In der Mitte des mafrasch, wie der Salon genannt wird, stapelt sich das Quat, das wie eine überdimensionale Portion Kaffee wirkt. Zweig für Zweig wird das Pflänzchen auseinandergepflückt. Die zarten rot-grünen Spitzen enden in den jeweils linken Backen. Besonders Geübte schaffen es dort, eine tennisballgroße Kugel zu speichern. Zwischendrin wird mit etwas Wasser aus der Plastikflasche nachgespült. Was dann kommt, ist ein Lehrstück politisch jemenitischer Diskussionskultur.

„Der Islam ist die Lösung, sagen die Islamisten. Ich würde vorschlagen, wir debattieren heute über diesen Slogan. Mit Verlaub ernennen wir dich zum Leiter der Sitzung“, sagt Raufa Hassan, ehemalige Kandidatin bei den im April stattgefundenen Wahlen und deutet auf den Richter Al-Schahiti. Der Vorschlag findet allgemeine Zustimmung. Als Neuling und Gast erteilt er mir das Wort. Es wird still im mafrasch. „Den Islam gibt es meiner Meinung nach als solchen nicht“, beginne ich, „also kann es auch nicht die islamische Lösung geben. Das ist alles eine Frage der Interpretation, und damit sind wir bereits nicht mehr bei der Religion, sondern mitten in der Politik.“ „Verzeihung“, sagt mein Nachbar, als ich fertig war. „Ich glaube, wir können unsere Probleme lösen, wenn sich unsere Herrscher nach den islamischen Prinzipien gerecht und verantwortlich verhalten.“ „Was meinen Sie, Frau Doktor“, fragt der Vorsitzende und deutet auf Raufa Hassan, schon ist eine mehrstündige Diskussion im Gange. Reicht ein Verhaltenskodex für die Regierenden, darf die islamische Bewegung den Islam für ihre Politik monopolisieren, sollen die Islamisten ins politische System integriert werden...? Das Qat löst die Zunge, aber es benebelt nicht den Verstand. Zwischendurch faßt der Richter die Diskussion zusammen, und stellt weitergehende Fragen. Die Debatte wird zum Nord-Süd- Konflikt gelenkt, es wird über den Kulturkrieg zwischen christlichem Abendland und muslimischen Osten sinniert. Gegen Ende steht ein Vergleich zwischen Befreiungstheologie in Lateinamerika und der islamistischen Bewegung Im Nahen Osten.

Das Narkotikum bleibt Nebensache. Es ist die Kunst des Palaverns, der Vortrag, die Formulierung und das überzeugende Argument, das Tag für Tag geübt wird. Arabia Felix – glückliches Arabien tauften die Römer den Jemen. Vielleicht waren sie damals schon davon angetan, wieviel Zeit die Menschen hier mit Reden und geduldigem gegenseitigem Zuhören verbrachten.

Gegner des Qat sprechen von der schädigenden Auswirkung des Grünzeugs auf die jemenitische Wirtschaft. Zuviel fruchtbarer Boden würde mit dessen Anbau verschwendet, zuviel unproduktive Zeit auf solchen Sitzungen verbracht. Schon seit Jahrhunderten geht der Streit, ob Qat zu den im Koran verbotenen Drogen gehört. Der islamische Rechtsgelehrte Ibn Hadshar al Haythami ordnete bereits vor fast 500 Jahren den Qat in die sogenannten schubahat, also den Dingen zu, die in den islamischen Quellen nicht zustimmend oder ablehnend behandelt werden. Er riet den Bewohnern von Sanaa, sich von der Droge fernzuhalten, auch wenn sie nicht ausdrücklich im Koran verboten ist.

Doch bis heute hat sich diese Lehrmeinung nicht durchgesetzt, und auch dem Gerede vieler entsetzter Entwicklungshelfer wird wenig Gehör geschenkt.

Qat-Sitzungen können ohne Übertreibung als die Basis der politischen Kultur des Landes beschrieben werden. Dem haben selbst neue Technologien wie Telefone, Datennetze und elektronischer Informationsaustausch nichts entgegenzusetzen. Manchmal wirkt dergleichen sogar eher störend für das beschauliche Gespräch. In Sanaa erzählt man sich die Geschichte von einer Qat-Sitzung hoher jemenitischer Politiker. Wie es sich für Rang und Namen gehörte, trug ein jeder sein persönliches, tragbares Telefon in der Tasche. Das ständige wichtige Piepen der Apparate ließ kein so rechtes Gespräch aufkommen. Einstimmig einigte man sich nach wenigen Minuten darauf, die Telefone einzusammeln, weit außerhalb des Salons zu deponieren und einfach für die nächsten Stunden sich selbst zu überlassen. Ohne High-Tech kaut und verhandelt es sich eben immer noch am besten. Karim El-Gawhary