Die letzte Metro Richtung Normalität

Über sechzig Prozent der Bewohner des israelischen Kernlandes unterstützen das Abkommen mit der PLO. Aber anders als in Europa hat die Einigung dort keine langanhaltenden Begeisterungsstürme ausgelöst.  ■ Aus Jerusalem Walter Saller

Die Kurse schnellten nach oben: steil, ungestüm, furios. Uneingeschränkt optimistisch reagierte die Tel Aviver Börse auf das israelisch-palästinensische Abkommen. So vorbehaltlos hätten sich nur noch die radikalen Gegner gezeigt. „Auf beiden Seiten“, sagt Avi. Das Abkommen habe, meint der in die Jahre gekommene Literaturdozent und „Frieden Jetzt“- Anhänger aus Tel Aviv, seltsame Bündnisse geschaffen. Beleidigt in ihrem Erlösungswahn und gekränkt in ihrem Gerechtigkeitsfanatismus würden die Radikalen jeden Versuch einer Übereinkunft mit deckungsgleichen Grundsätzen ablehnen: Israel/Palästina sei urjüdische/urislamische Erde und somit nicht verhandelbar. „Die bestehen darauf, sich weiterhin die Schädel einzuschlagen, vorsätzlich und bis zur allerletzten Endgültigkeit.“

Freilich, die Vertreter des kurzen Prozesses sind entschieden in der Minderheit. Die Mehrheit – Umfragen unter Juden, Muslimen, Christen und Drusen im israelischen Kernland sprechen von über 60 Prozent – begrüßt das Abkommen. Zwei Völker, die um ein und dasselbe Land kämpfen und die dazu verdammt schienen, auf ewig Todfeinde zu bleiben, proben die Versöhnung.

Aber weder Israelis noch Palästinenser hätten plötzlich ihre Liebe zueinander entdeckt, stellt Avi klar. Im Gegensatz zu Westeuropa oder den USA, wo das Abkommen Begeisterungsstürme ausgelöst habe, seien die Menschen in Israel zurückhaltender, ihre Hoffnungen bescheidener. „Wir wollen einfach ein anderes, ein normaleres Leben.“ Und dazu sei das Papier ein erster Schritt. „Nicht mehr, aber auch nicht weniger.“

Avi hat sich mit alter chinesischer Philosophie beschäftigt. Er schätzt ihre asiatische Gelassenheit, bewundert ihr großzügiges Verhältnis zur Zeit. „Frieden Jetzt“ dagegen sei immer in die gleiche Falle getappt: „Wir wollten den Frieden, und wir wollten ihn sofort.“ Aber eine Seereise von 2.000 Meilen beginne auch nicht mit dem Ziel, sondern mit einem ersten Windstoß. Das jedenfalls würden die Chinesen sagen. Wer aber wolle schon bei der ersten Bö wissen, wann und wo die Reise wirklich ende? Und genauso würden heute die meisten Israelis den Friedensprozeß sehen: „vorsichtig, kritisch, skeptisch“. Im Blick sei mehr die technische Abwicklung des Abkommens denn der historische Kompromiß, zu dem es einmal werden könnte. „Könnte“. Avi verdoppelt den Konjunktiv. Denn ein Schiff hätte ja auch noch eine ganz andere Alternative: „Es kann untergehen.“

Die Zurückhaltung ist begreiflich, der Zweifel verständlich. Nach einem halben Jahrhundert der Krisen und Kriege, nach Jahrzehnten der totalen Sprachlosigkeit und der sturen Leugnung des Existenzrechts des jeweils anderen Volkes auf biblischem Boden kommt die Verständigung zwischen Israel und der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO für viele ein wenig plötzlich. Die merkwürdige Eile, die geheimen Verhandlungen und die Ausklammerung wichtiger Fragen haben dazu beigetragen, daß die Übereinkunft nicht nur seinen erklärten Gegnern nicht ganz koscher scheint. Noch zu der Zeit, als die Unterhändler beider Seiten bereits am Vertrag feilten, waren nach israelischem Strafrecht Kontakte zur PLO verboten, leugnete die palästinensische Nationalcharta das Existenzrecht Israels.

Längst sind die politischen Konstellationen, die zu dem überraschenden Sinneswandel auf israelischer und palästinensischer Seiten führten, umfassend analysiert, ausgiebig kommentiert: der Kollaps der Sowjetunion und der Erfolg islamistischer Bewegungen, Arafats kriegerischer Schulterschluß mit Saddam Hussein und die Rache der Ölscheichs. Kurz: Der große Bruder der PLO löste sich in nichts auf, ihre Anhänger desertierten in Scharen, und in der Kasse herrschte Ebbe. Arafat und seine PLO standen vor dem Bankrott: politisch und finanziell.

Daß ausgerechnet die israelische Regierung Arafat retten mußte, entbehre nicht einer gewissen Komik, meint Avi. Freilich, auch die Regierung von Ministerpräsident Rabin wäre unter Hochdruck gestanden. Angetreten mit dem Wahlversprechen, binnen weniger Monate den Friedensprozeß entscheidend voranzutreiben, mußte die Arbeitspartei jetzt irgendwie handeln. „Der ging es wie einer Lok, die voll unter Dampf steht. Aber es gibt keine Schienen.“ Und in seiner Not habe Rabin eben die Kröte geschluckt: Arafat.

Aber nicht nur die Linken, sagt der Tel Aviver Buchhändler Dani, auch auf seiten der Rechten hätten mehr und mehr Israelis erkannt, daß die Dauerbesetzung von Westbank und Gaza-Streifen fatale Folgen habe. Jahrzehntelang hätten die wechselnden israelischen Regierungen massiv gegen Menschenrechte verstoßen, Palästinenser enteignet, ihr Land besiedelt. Eine ganze Generation traumatisierter Menschen sei entstanden. „Und die Quittung dafür waren Hamas, der Islamische Dschihad und die Intifada.“ Die Verhandlungen mit Arafat seien die letzte Metro Richtung Normalität gewesen. Denn in weniger als einem halben Jahr, da ist sich Dani sicher, wäre den Israelis nur ein Partner geblieben: Hamas. Irgendwie sei das Ganze ja eine echte Posse. Ausgerechnet die israelischen Geheimdienste, die über Jahrzehnte die Liquidierung Arafats geplant hätten, müßten ihn nun vor Radikalen in den eigenen Reihen schützen. „Der Mossad sorgt dafür, daß Jassir Arafat sicher wie in Abrahams Schoß ist.“

Der Mossad behütet Arafat. Über Nacht sind die Karten im israelisch-palästinensischen Poker neu gemischt. Plötzlich gibt es Gesprächspartner, Gesprächsthemen und einen Verhandlungsgegenstand: Frieden im Austausch gegen Gebiete. Nach fast dreißig Jahren Stillstand seien die Fronten arg rasant ins Wanken geraten, meint Ophra, und daher beide Seiten verunsichert. Viele Israelis würden den Palästinensern und viele Palästinenser den Israelis mißtrauen. „Das Abkommen hat alle alten Gewißheiten erschüttert“, sagt die Jerusalemer Anglistikstudentin. Und auch untereinander herrsche Argwohn. Schließlich würden sich die Verhandlungen ja nicht nur darum drehen, wieviel Land welcher Friede wert sei.

Letztlich gehe es doch um viel mehr: „Um eine Art Selbstbestimmung: Wer sind wir überhaupt? Wie sollen und können wir leben? Was für ein Israel, was für ein Palästina wollen wir?“

Kurz vor der wechselseitigen Anerkennung zwischen israelischer Regierung und der PLO gab es in Israel zwei große Demonstrationen. Eine in Tel Aviv für, die andere in Jerusalem gegen die Anerkennung: „Peace Now“ versus „Israel Is In Danger“. Doch nur vordergründig ging es um die Frage, ob die wechselseitige Anerkennung nun ein Schritt in Richtung Frieden oder aber Verrat sei. In den zwei Demonstrationen spiegelte sich vor allem die innere Spaltung des Landes, kam die Frage nach dem Charakter Israels, das bis heute keine geschriebene Verfassung besitzt, zum Ausdruck.

In Tel Aviv waren die westlich orientierten Israelis aufgezogen: Anhänger der Arbeitspartei und vom linken Meretz-Bündnis, von „Peace Now“ und den Kommunisten, liberale und bürgerliche Gruppen, Künstler und Intellektuelle. Und sie traten nicht nur für die wechselseitige Anerkennung ein und nicht nur gegen die andauernde Besatzungspolitik. Sie warben vor allem für eines: für ein säkulares Israel – demokratisch, offen, westlich.

Wenn Israel sich an Gaza und Jericho, Jenin und Hebron kralle, meint Yael, eine junge Malerin aus Haifa, dann werde es am Ende zu einer schwerbewachten Zitadelle. Im besten Fall. „Im schlimmsten Fall aber zu einer Art Südafrika am Mittelmeer.“ Deshalb habe sie an der Kundgebung in Tel Aviv teilgenommen, und nicht, um Arafat die Hand zu schütteln.

Bei der Gegendemonstration in Jerusalem versammelte sich das andere Israel: Anhänger des rechtskonservativen Likud- Blocks, Religiöse und Orthodoxe, Siedler und orientalische Juden mit Kippa und Kindern. Die Träume der Tel Aviver Demonstranten sind ihre Ängste. Ein säkulares, offenes Israel, das sich von anderen westlichen Staaten nur unwesentlich unterscheidet, verkörpert für sie den Untergang des Judentums, und die Aufgabe der besetzten Gebiete bedeutet für sie die Preisgabe der angestammten Urheimat. Ihre Vision dagegen ist der Horror der anderen: Israel, jüdisch, religiös, abgegrenzt.

Abulafia ist ein sinnlicher Mensch. Beim Gang durch den Jerusalemer Sacher Park pflückt der aus Marokko stammende Israeli aus Rishon le Zion Blätter und Blüten, macht Geruchsproben. Er kennt alle Pflanzen. Über die Demonstration der „Peaceniks“ in Tel Aviv sagt er augenzwinkernd: „Whites only“. Da seien nur die „Europäer“ gewesen. Überhaupt nähmen seit der letzten Wahl und dem Sieg der Arbeitspartei die Gegensätze zwischen den Ashkenazim – den „Europäern“ – und den Sephardim – den „Orientalen“ – wieder zu. Der Likud-Block, dem Abulafia seine Stimme gibt, habe wenigstens einige orientalische Israelis in Spitzenstellungen gebracht.

Wie den aus Marokko stammenden Ex-Außenminister David Levy. Der sei von Beruf Bauarbeiter gewesen, einer von ihnen. „Kein Fatzke aus der Arbeitspartei.“ Das Abkommen mit den Palästinensern lehnt Abulafia ab. Nicht weil er unbedingt an Groß- Israel oder an den Bibelfundamentalismus vieler Siedler glaube, aber wenn man die Gebiete zurückgäbe, würden die arabischen Arbeiter in Israel ausbleiben. Und dann dürften die Orientalen wieder die Drecksarbeit machen.

Ein Teil der israelischen Handarbeit ist fest in arabischer Hand: Muhammad stapelt Obstkisten auf dem Tel Aviver Carmel Markt, Murad fegt Straßen in Jaffa, Ibrahim erntet Tomaten bei Aschkelon, und Ali baut Häuser in West- Jerusalem. Die Palästinenser sind der israelischen Wirtschaft das, was den Deutschen Türken oder Polen sind: Arbeiter zu niedrigen Löhnen. Palästinenser seien eben Bauarbeiter – selbst in der Vorstellung der Kinder, sagt Abulafia und erzählt einen Witz: Ein kleines Mädchen spaziert mit dem Großvater durch Tel Aviv. Er, ein berühmter Architekt, weist stolz auf seine Arbeit. „Schau!“ sagt er, „dieses Haus habe ich gebaut.“ Die Enkelin freilich ist ganz verwirrt: „Aber Großvater, ich wußte gar nicht, daß du früher Araber warst.“

Er hasse die Araber nicht, meint Abulafia. „Die sind auch nicht schlechter als die Russen.“ Allerdings seien viel zuviele russische Einwanderer gekommen. „Und nicht die besten: Huren, Mafiosi und Schwindler.“ Die Hälfte der Russen seien nämlich gar keine Juden. Man müsse sich ja nur einmal den Straßenstrich im Norden Tel Avivs ansehen. „Lauter russische Nutten.“ Die Russen würden sich um Israel nicht einen feuchten Dreck scheren. Im Grunde wollten die alle nur in die USA weiter. „Die glauben doch, dort wächst das Geld auf den Bäumen.“ Abulafia riecht an einer Lavendelblüte. Er mag einfach keine Russen.

Unter den russischen Juden, die mit der letzten Aliya, der Einwanderungswelle seit 1989, eingewandert sind, sei Israel-Begeisterung eine ausgesprochene Seltenheit, meint Awram, der aushilfsweise und freiwillig beim Tel Aviver Einwanderungsbüro, der „Jewish Agency“ arbeitet. „Die sind alle richtig antizionistisch.“

Genadi ist einer der etwa 450.000 russischen Neuimmigranten. Er ist siebzehn Jahre alt, hat eine exzessive Affäre mit seinem Computer und lebt seit zwei Jahren zusammen mit Vater und Mutter im Süden von Tel Aviv. Weder hat Genadi einen israelischen Namen angenommen, noch ist er beschnitten. „Soll ich denn meine Identität aufgeben?“ Das Abkommen zwischen Juden und Arabern sei ganz gut. Aber worum es bei der Sache im einzelnen gehe, wisse er nicht so ganz genau. Irgendwie fühle er sich schon als Jude. Aber vor dem Mohel – dem Beschneider – und dem kleinen Schnitt habe er echt Angst. „Der macht dir da an deinem Ding rum, und am Ende bist du vielleicht impotent.“ Daß er ohne Beschneidung gar nicht als Jude gelte und unbeschnitten nicht einmal in Israel begraben werden könne, stört Genadi wenig. Ans Sterben in Israel denke er ohnehin nicht. Als Computerfreak könne er jederzeit in die USA gehen. „Die suchen doch solche wie mich.“

Jaakov stammt aus Mea Shearim, dem bekanntesten Orthodoxen-Viertel Jerusalems. Auch ihm sind die russischen Neubürger

nicht ganz geheuer. Allerdings auch weit lieber als die Falaschen, die vor gut zehn Jahren mit der spektakulären Luftbrücke „Mose“ von Äthiopien nach Israel gebracht wurden. Denn die mögen ja alles sein, „aber Juden sind sie gewiß nicht“. Der 30jährige ist Anhänger des steinalten Lubawitscher Rabbi Schneerson aus New York, der sich – nur halbherzig widersprochen – als Messias feiern läßt. Der Rabbi, ein maßlos pathetischer Exzentriker, wirkt gleichzeitig schwermütig und größenwahnsinnig. Per Videobotschaft hat er sich vehement gegen das israelisch-palästinensische Abkommen ausgesprochen. Jaakov erklärt die Haltung des Greises: Der habe gar keine andere Möglichkeit gehabt, als sich gegen die Gaza-Jericho-Option auszusprechen. „Was Gott den Gläubigen anvertraut hat, dürfen diese nicht verschenken.“ So stehe es eben geschrieben im Leviticus, dem dritten Buch Mose, Kapitel 25, Vers 23: „Darum sollt ihr das Land nicht verkaufen für immer; denn das Land ist mein, und ihr seid Fremdlinge und Gäste von mir.“

Die meisten Orthodoxen, eine sehr kleine, aber einflußreiche Minderheit, lehnen nicht nur die israelisch-palästinensische Annäherung ab, sie sträuben sich auch gegen die Einführung einer geschriebenen Verfassung, die vor allem von linken Politikern immer wieder gefordert wird. Die Orthodoxen sind gegen die schriftliche Verankerung der Staatsgrundsätze, weil sie letztlich auf eine Trennung von Religion und Staat abzielen würde. Die Orthodoxen aber wollen nicht irgendeinen Staat. Sie wollen einen jüdischen Staat. Außerdem habe Israel bereits die beste Verfassung, sagt Jaakov, die der Mensch kenne: „die Thora“.

Die Orthodoxen pflegen ihr ganz eigenes Verhältnis zum israelischen Staat: Sie leisten keinen Wehrdienst, haben eigene Schulen, sprechen Jiddisch und halten die Profanisierung des Hebräischen als Staatssprache für Ketzerei. Ultraorthodoxen Gruppen wie den Haredin und den Neturei Carta ist der Staat Israel gar reine Blasphemie. Nur der Messias dürfe das Reich Israel ausrufen. Und sei der denn gekommen?

Zwi, Tel Aviver Journalist und Spezialist für Innenpolitik, glaubt, den meisten Orthodoxen sei das israelisch-palästinensische Abkommen herzlich egal. Die würden immer zwischen Regierung und Opposition schwimmen. Und was für sie zähle, sei die Zahl vor dem Komma. „Die brauchen Geld für ihre Schulen, Geld für ihre Synagogen, Geld für ihr System.“ Auch für den Likud-Block sei die Ablehnung des Abkommens im Grunde gar nicht so einfach. Hunderttausende orientalischer Juden aus Marokko, Jemen oder Tunesien, klassische Likud-Wähler also, würden doch nur auf die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit den arabischen Staaten warten. „Die wollen endlich einmal ihre alte Heimat besuchen.“

Das Abkommen habe kuriose Parallelen ans Licht gebracht, sagt Meggy Cohen, Jerusalemer Autorin. Zum Beispiel zwischen der Religionspartei Schas und den Kommunisten. So habe der Schas-Abgeordnete Arie Deri mit vielen dunklen Sätzen aus der Thora und akrobatischen Wortkapriolen begründet, warum Schas nicht gegen das Abkommen, aber auch nicht dafür stimmen könne. Genau wie die Kommunisten. Die hätten sich in ihrem verbrämten Kauderwelsch auch nur auf ein klares „jein“ einigen können. „Die wissen doch selbst nicht, ob sie nun standgehalten oder nachgegeben haben.“

Lufti Maschur ist Palästinenser, Christ und israelischer Staatsbürger. Der Herausgeber der arabischen Wochenzeitung Al-Sennara lebt in Narzareth. Er sieht sich und die arabischen Israelis als Vermittler zwischen jüdischen Israelis und den Palästinensern der besetzten Gebiete. Positiv formuliert. Er lacht. „Man könnte auch sagen: Wir sitzen zwischen allen Stühlen.“ Lufti hat eine Umfrage über das israelisch-palästinensische Abkommen gemacht. Unter 500 arabischen Israelis: Moslems, Christen, Drusen. Das Ergebnis: 63 Prozent der Befragten waren mit dem Abkommen einverstanden, 24 lehnten es ab, und 13 Prozent hatten keine Meinung. Aber nur 46 Prozent glaubten, daß es irgendwann einmal zu einem unabhängigen palästinensischen Staat führen werde.

Wenn das Abkommen aber keinen eigenständigen Palästinenserstaat bringe, dann werde es eine Explosion geben. „Die Palästinenser bestehen auf ihrer eigenen Flagge, eigenem Paß, eigener Hymne.“ Lufti glaubt an den neuen Staat. Und auch für die gemäßigten Islamisten sieht er eine Aufgabe. Sicher, mit den Radikalen von Hamas oder dem Islamischen Dschihad sei nicht zu reden. Arafat müsse es aber schaffen, die Religiösen miteinzubeziehen. Als Oppositionspartner vielleicht. Er müsse ihnen das Gefühl geben, daß es auch ihr Friede sei. „Wenn er sie übergeht, dann wird es in Gaza, in Nablus oder Hebron krachen.“

Ibrahim, wie Lufti aus Nazareth und mit israelischem Paß, sieht den möglichen PLO-Staat mit gemischten Gefühlen. Sicher, ein solcher Staat sei nicht schlecht. Aber er sei immer für ein binationales Israel eingetreten, in dem Juden und Palästinenser gleichberechtigt mit- und nebeneinander leben. Leider sei die Idee nun mausetot. Nur einige Kommunisten würden davon noch träumen. Für die israelischen Araber, die ja auch in Zukunft für ihre Bürgerrecht kämpfen müßten, werde die Situation schwieriger werden. „Ich fürchte, künftig werde ich einfach hören: Geh doch rüber!“

Unter den Palästinensern in Ost- Jerusalem ist die Zustimmung für das Abkommen hoch. Souvenir- und Devotionalienhändler, Handwerker und Obstverkäufer sind sich sicher: Der Vertrag werde ihnen einen Wirtschaftsboom bescheren. Butros, ein junger palästinensischer Christ und Devotionalienhändler aus der Via Dolorasa, bringt die Stimmung auf den Punkt: „Make money, not war.“

Adel arbeitet in einem Hotel in der Ost-Jerusalemer Nablus-Straße. Er ist 35 und sieht aus, als plage ihn seit der Geburt ein übersäuerter Magen. Das Abkommen sei schlecht, und auch die Israelis seien schlecht. Am schlechtesten aber seien alle die Palästinenser, die für diese arabische Schande einträten. Schuld an der Misere sei die jüdische Presse. Weltweit habe sie allen die Köpfe vernebelt. Aber man brauche ja nur einmal den Namen Times rückwärts lesen, dann wisse man Bescheid über die jüdische Weltverschwörung. Neben Anagrammen glaubt Adel nur noch an die Deutschen. „Deutschland ist gut. Mercedes ist gut.“ Mercedes, ein Wort so berühmt wie Hitler. Und eigentlich meint Adel auch Hitler, wenn er Mercedes sagt.

In der arabischen Welt sei ein neuer Kampf zwischen Fortschritt und Reaktion ausgebrochen, meint Nuredin. Er stamme aus Jaffa und sei ein sozialistischer Palästinenser israelischer Nationalität. Der Kampf zwischen Säkularisten und Islamisten werde alle arabischen Staaten erfassen. Und die Israelis könnten dabei eine wichtige Rolle spielen. Denn nicht High-Tech-Bewässerungsmethoden oder neue Marketingkonzepte für Gemüse würden der israelische Exportschlager der Zukunft sein. „Die Ägypter, die Syrer, die Jordanier werden doch anstehen, um von den Israelis logistisches und geheimdienstliches Know-how beim Kampf gegen die Fanatiker zu bekommen.“

Noch im Oktober werden im Gaza-Streifen und in der Westbank „autorisierte Palästinenser“ die Zuständigkeit für Kultur und Erziehung, Soziales und Steuern erhalten. Dann wird der Aufbau einer palästinensischen Polizei für Gaza und Jericho beginnen. Zum Jahresende soll sich das israelische Militär von dort zurückziehen und eine fünfjährige Interimsperiode für die palästinensische Autonomie beginnen. Und bis zum nächsten Sommer soll ein „Rat der Palästinenser“ gewählt werden. So will es das in Oslo geschlossene Abkommen zwischen der PLO und der israelischen Regierung.

Wie es danach weitergehen wird, weiß keiner. Denn die wichtigsten Streitfragen sind im Abkommen ausgeklammert oder nur vage angedeutet: die Siedlungen, die Absperrungen der Grenzen, der Status von Jerusalem und die Frage, ob es nach der Autonomie einen palästinensischen Staat geben wird. Und dann sind da noch die anderen Palästinenser: drei Millionen Vertriebene. Sie leben in Jordanien, im Libanon und in Syrien. Im Abkommen wurden sie vergessen. Unabhängig von Terrorakten der militanten Gegner könnte jede dieser ungeklärten Fragen ausreichen, um die israelisch-palästinensische Übereinkunft zum Scheitern zu bringen. Doch es gibt berechtigte Hoffnung auf Frieden: Die Mehrheit der Menschen in Israel und in den besetzten Gebieten will ein besseres, ein normaleres Leben. Und dazu ist ein erster Schritt gemacht. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.