Der „Armutstreck“ auf dem Weg nach Bonn

■ Protest gegen Sozialabbau stößt auf geringes öffentliches Interesse

Magdeburg (taz) – Hungerzüge haben schon oft den Lauf der Weltgeschichte beeinflußt. Nicht die Weltgeschichte, aber die Bonner Politik möchten die Organisatoren eines „Armutstrecks durch Deutschland“ gern verändern. Ob das gelingt, darf getrost bezweifelt werden. Bisher ist schon die Öffentlichkeitswirkung des Trecks beschämend gering.

Der Protest, in diesen Tagen auf dem Weg durch mehrere Landeshauptstädte nach Bonn getragen, richtet sich gegen zwei Gesetzentwürfe der Bundesregierung, mit der der Kohl-Klan gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen will. Es geht zum einen um die Pläne, den Arbeitslosenhilfebezug auf zwei Jahre zu begrenzen. Nach Ablauf der zwei Jahre will die Bundesregierung Arbeitslosenhilfeempfänger in die Sozialhilfe abschieben. Sie würde damit nicht nur Milliarden auf Kosten der Länder und Kommunen sparen, sondern zum Auftakt des Superwahljahres ganz hintenrum dafür sorgen, daß ihre Arbeitsmarktpolitik, oberfächlich besehen, in einem etwas günstigeren Licht dasteht.

Denn die allmonatlichen Schreckenszahlen der Bundesanstalt für Arbeit melden ausschließlich die Arbeitslosen, die auch entsprechende Leistungen, sprich: Arbeitslosengeld oder -hilfe, erhalten.

Glück für Kohl: Die geplante Befristung der Arbeitslosenhilfe benötigt nicht die Zustimmung der Länder im Bundesrat. Für seine geplante Kürzung der Sozialhilfe braucht Kohl zwar die Bundesratsmehrheit, aber der kann er sich auch nahezu sicher sein. Denn schließlich sitzt den Ländervertretern das Hemd näher als die Jacke. Sozialhilfe geht auf Kosten der Länder und Kommunen, und die Aussicht, demnächst Hunderttausende Arbeitslosenhilfeempfänger als zusätzliche Kostgänger der Sozialhilfe zu bekommen, wird den Ländern die Zustimmung zur Kürzung der Stütze beträchtlich erleichtern.

„Und wer da einmal drin ist, kommt nie wieder raus“, prophezeit die Magdeburger Treck-Organisatorin Angelika Reimer. Denn Umschulung, Fortbildung und Qualifizierung für diese Langzeitarbeitslosen gibt's nur, wenn das Sozialamt die Kosten für eine solche Berufsqualifizierung an die Bundesanstalt für Arbeit zurückzahlt.

Seit vier Tagen ist der „Armutstreck“ durch Deutschland unterwegs. Am 3. Oktober, dem Tag der Deutschen Einheit, wollen die Organisatoren ihren Protest in die Nochhauptstadt Bonn tragen. „Bildet Fahrgemeinschaften und kommt möglichst nach Bonn“, rufen die Initiatoren vom Arbeitslosenzentrum Bielefeld alle Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger auf. „Im nächsten Jahr könnte das Geld nicht mehr reichen.“

Die Resonanz auf den Treck war bislang eher bescheiden. Von nur hundert Kundgebungsteilnehmern in Berlin spricht die Polizei, Treck-Leiter Franz Schaible nennt „mindestens dreihundert“. Auch in Potsdam wollten tags zuvor nur fünfhundert Teilnehmer (Veranstalterangabe) erleben, wie Sozialministerin Regine Hildebrandt den Treck auf die Reise schickt.

„Die geringen Teilnehmerzahlen muß man relativ sehen“, sagt Schaible. „In den Köpfen der Menschen ist einfach noch nicht drin, was sie ab dem nächsten Jahr erwartet.“ Wichtig sei deshalb, daß die Medien den Treck noch einmal zum Anlaß nehmen, über das unsoziale Sparpaket der Bundesregierung zu berichten.

Für Schaible selbst ist es reiner Idealismus, den Treck zu leiten und durchzuziehen. Er ist zwar Arbeitsplatzbesitzer, aber er kann, so sagt er, „als Mensch einfach nicht ertragen, wie ab dem 1. Januar eine Viertelmillion Arbeitslose mit einem Federstrich zu Sozialhilfeempfängern degradiert werden, ohne Aussicht, je wieder aus der Sozialhilfe herauszukommen“. Es müsse verhindert werden, so Schaible, daß die Bundesregierung die finanziellen Auswirkungen ihrer falschen Wirtschaftspolitik auf Länder und Kommunen abwälzt. Eberhard Löblich