„Zeit für Melodie“ Urge Overkill, eine inverse Kraft des Alternative-Rock, besucht Hamburg / Eddei Roeser erzählt

■ Urge Overkill, die Invers-Alternative-Rocker, live in Hamburg

Das Musikgeschäft ist zweifelsohne nicht gerade von geistiger Größe geprägt, ein Umstand, der dazu führt, daß schon intellektuelle Krümelchen wie Gebirge anmuten, zudem sie der Medienverstärker begeistert auf den Thron hebt. Über eine Band, die durch ein hohes Maß an Individualität, Musikwissen und Stil verfügt, sich aber trotzdem darauf reduziert, eine Rockband zu sein, stolpert vor diesem Hintergrund so ziemlich jeder. Urge Overkill heißt das Trio, das es wagt, jenes intellektuelle Tabuwort mit Glanz und Gloria zur Schau zu stellen und dem aus eben jenen Kreisen niemand einen Vorwurf macht. Warum nur? Was ist so besonderes an dieser Band? Nur weil sich ein Trio aus höchst undergroundigem Noise-Umfeld in Samt und Seide kleidet? Weil Bewohner des kriminellsten Chicagoer Viertels sanft rumpelnden Rock spielen und andächtig und gekonnt Neil Diamond und Hot Chocolate covern? Oder weil sie von sich aus eine „corporate identity“ begründen? Und das alles in entspanntester Souveränität tun? Die besagten drei legten jedenfalls vor kurzer Zeit mit Saturation ihr nach gut achtjährigem Bestehen und vier (Independent-)LPs erstes Major-Album vor und präsentierten verdutzten Unwissenden und staunenden Fans eine glamouröse Abfolge poppig swingender Gitarren-Hits.

Eddie „King“ Roeser (Bassist und Sänger): Es stimmt schon, bisher haben wir subtiler gearbeitet. Unsere wichtigsten Einflüsse, ob Soul oder Pop der frühen Achtziger mußtest du dir mit 20fachem Hören aus der Musik schälen. Tatsächlich wurden wir lange Zeit als eine wüste Punk-Band angesehen, auch noch als der große Nirvana-Erfolg passierte, dabei sind wir nicht annähernd so Punk-verhaftet wie sie.

taz: Was Punk angeht, so reibt sich dessen Selbstverständnis ja auch an Eurer Einstellung zu spielerischem Können.

Roeser: Auch hierfür liegt der Grund in unseren Einflüssen, die zum großen Teil lange vor Punk liegen. Zudem ist es kein Problem miserabel zu spielen, aber die Fähigkeit, emotionale Tiefe zu erreichen, hängt einiges mehr mit Können zusammen.

taz: Eurer Musik hört man diese Fingerfertigkeit nicht unbedingt an. Reduzieren sich die Künstler freiwillig?

Roeser: Was den Aufbau angeht, so reden wir, halb im Spaß, von einer kubistischen Arbeitsweise, in dem Maße wie der Kubismus Dinge definiert, zerstört und wiederum ansatzweise neu definiert.

taz: Trotz Retro-Vielfalt, Grunge, Pop und 70s-Revival steht ihr mit eurer kombinierten Ästhetik recht allein da. Inwiefern ist es eine Motivation für euch, alternativ zum Alternative-Rock zu sein?

Roeser: Sicher, mehr oder weniger bewußt war und ist das ein wichtiger Faktor für uns. So gab es '86 in Chicago wohl kaum etwas unpassenderes, als in den kleinen Punk-Klitschen im lila Samt-Anzug aufzutreten. Wobei unsere Ästhetik nicht aus einer bloßen Provokationshaltung heraus resultiert, sondern Bezug nimmt auf die reiche Tradition an schwarzer Musik in dieser Stadt, eine Tatsache, die kaum eines dieser Independent-Rock-Kids wahrnimmt. Überhaupt hat die dreckige Gitarre, der „Alternative Sound“, seine Bedeutung völlig verloren und ist zum bloßen Produktnamen geworden. Für uns ist es jetzt an der Zeit für Melodie.“

Uschi Steiner