Tötungsverbot und Wert des Lebens

Die Debatte um die Thesen Peter Singers tritt mit der deutschen Buchveröffentlichung in eine neue Phase  ■ Von Theodor Ebert

„Im Rahmen dieser Ethik ist es möglich und notwendig, lebenswertes und lebensunwertes Leben zu unterscheiden und das lebensunwerte zu vernichten.“ Mit diesem Satz wurde der australische Philosoph Peter Singer in Deutschland häufig zitiert, auch in der taz (vom 19.8.1989). Es ist verständlich, daß sich gegen eine solche Ansicht der Protest richtete.

Nur: Dieses angebliche Zitat stammt gar nicht von Singer; es steht auch im Gegensatz zur Meinung von Helga Kuhse und Peter Singer, „daß die reichen Nationen sehr viel mehr tun sollten, um behinderten Menschen ein erfülltes, lebenswertes Leben zu ermöglichen und sie in die Lage zu versetzen, das ihnen innewohnende Potential wirklich auszuschöpfen“. (Kuhse/Singer, Vorwort zu „Should the Baby Live?“, 1983, deutsche Ausgabe, S. 26) Die Herkunft dieses Pseudo-Zitats und seinen Weg durch die deutsche Öffentlichkeit haben Rainer Hegselmann und Annette Strelow nachgezeichnet. (In: Hegselmann/Merkel: Zur Debatte über Euthanasie. Frankfurt 1991, S. 214–219) Seine denunziatorische Wirkung ist dadurch kaum beeinträchtigt worden: Kuhse und Singer sind für weite Teile der deutschen Öffentlichkeit als Krüppel-Killer gebrandmarkt.1

Daß in Deutschland und der Schweiz Vorträge Singers gesprengt wurden, daß es zur Absage eines Vortrages von Helga Kuhse (in Österreich) und von Vorträgen Singers kam, daß von der Ministerialbürokratie Pressionen auf einen deutschen Kollegen Singers ausgeübt, daß ein ganzer Philosophie-Kongreß abgesagt wurde, weil Singer dort reden sollte, das ist auch gezielter Fehlinformation zuzuschreiben. In diesen Vorgängen zeigt sich aber ebenso ein erschreckender Mangel an Bereitschaft, fundamentale Fragen von Moral und Recht zum Gegenstand rationaler Diskussion zu machen und dabei auch eigene Überzeugungen in Frage zu stellen. Schlimmer noch: Es wird damit faktisch Zensur ausgeübt: Bestimmte Überzeugungen sollen gar nicht erst zum Gegenstand der Diskussion gemacht werden dürfen. Daß damit auch der Nachweis ihrer möglichen Falschheit erschwert wird, scheint die neuen Anwälte einer Zensur wenig zu kümmern.

Der letzte, zweifelhafte „Erfolg“ derjenigen, die hier ein Diskussionsverbot durchsetzen wollen, war der Rückzug des Rowohlt- Verlages von der Publikation der deutschen Übersetzung von „Should the Baby Live?“2

Daß das Buch dennoch auf deutsch erscheint, ist dem kleinen, auf Philosophie spezialisierten Harald Fischer Verlag zu verdanken. Ein Nutzen der Publikation könnte immerhin der sein, daß der Streit um Kuhse und Singer sich in Zukunft auf Thesen bezieht, die sie vertreten, und nicht auf solche, die ihnen (aus Unkenntnis oder Böswilligkeit) unterstellt werden.

Kuhse/Singer beginnen mit Fällen aus der ärztlichen Praxis Englands und der USA, die Gegenstand von Gerichtsverfahren waren. Dabei zeigen sie zunächst dreierlei: (1) In vielen Krankenhäusern wird faktisch darüber entschieden, welche schwerstgeschädigten Neugeborenen weiterleben sollen, welche nicht. (2) Obwohl es gerade die Fortschritte medizinischer Technik sind, die diesen Neugeborenen ein (oft nur befristetes) Überleben ermöglichen, sind das keine ausschließlich medizinischen Entscheidungen; hier kommen Gesichtspunkte moralischer Natur (über den Wert eines Lebens) zum Tragen. (3) Die Unterscheidung zwischen aktiver Tötung als verbotenem und bloßem Sterbenlassen als u.U. erlaubtem Verhalten, die im geltenden Recht festgeschrieben ist und auf die sich Ärzte berufen, ist moralisch jedenfalls dann nicht zu halten, wenn der Gesichtspunkt der Vermeidung von Leiden ausschlaggebend ist. Denn fast immer ist das Sterbenlassen mit mehr Leiden verbunden als die aktive Tötung.

Ganz abgesehen davon, wie wir zu den Folgerungen stehen, die Kuhse/Singer selbst aus diesen Nachweisen ziehen wollen, sie zwingen uns dazu, eine medizinische Praxis zur Kenntnis zu nehmen und nach den ihr zugrundeliegenden moralischen Kriterien zu fragen. Kuhse/Singer selbst wollen daraus die moralische Erlaubtheit der aktiven Tötung von Neugeborenen in bestimmten Fällen ableiten und plädieren damit für eine entsprechende Änderung des Strafrechts. Kann es überhaupt solche Fälle geben, und, wenn ja, welche sollen es sein? Was den ersten Teil dieser Frage angeht, so scheinen mir die Argumente von Kuhse/Singer für ein Ja überzeugend. So kann etwa in den Fällen, in denen ein Neugeborenes Defekte hat, die ein bewußtes Leben überhaupt ausschließen (Anenzephalie [= Fehlen des Groß- und Zwischenhirns]) oder die mit Sicherheit oder mit großer Wahrscheinlichkeit zum Tode führen und für den absehbaren Zeitraum der Existenz große Leiden erwarten lassen, ein Tötungsverbot moralisch wohl kaum begründet werden. Jedenfalls ist die Praxis des Sterbenlassens im allgemeinen grausamer und damit unmoralischer.

Problematisch wird allerdings die Position von Kuhse/Singer, wenn sie eine Tötung auch dort für erlaubt halten, wo nicht, wie in den vorstehenden Fällen, ein Handeln im besten Interesse des Kindes geltend gemacht werden kann, sondern wo die Interessen der Familie oder der Gesellschaft den Ausschlag geben. Kuhse/Singer wollen Neugeborenen nicht den Status einer Person zuerkennen; Säuglinge sind damit für sie Wesen minderen Rechts, denen insbesondere kein Lebensrecht zusteht.

Kuhse/Singer stützen sich hier (S. 176ff.) auf einen Begriff von Person, der ausführlicher von dem amerikanischen Philosophen Michael Tooley (in: Abortion and Infanticide, 1983, S. 87ff.) dargestellt worden ist. Danach kann eine Person als Träger von Rechten und Interessen nur ein Wesen sein, das auch Wünsche und Erfahrungen haben kann. Sowohl bei Tooley (vgl. S. 118f.) wie auch bei Kuhse/ Singer ist das aber eine dogmatische Annahme, für die keine Begründung angeboten wird. Intuitiv ist es keineswegs plausibel, daß ein Wesen, das (noch) keine Wünsche und Erfahrungen hat, keine Interessen haben kann. Ein Interesse setzt, anders als ein Wunsch, kein Bewußtsein von diesem Interesse auf seiten dessen voraus, dessen Interesse es ist.

Daher scheint mir die These von Kuhse/Singer, daß Neugeborene keine Personen sind, falsch, jedenfalls ist sie aber nicht bewiesen. Auf eine unbewiesene These lassen sich aber keine Folgerungen (wie hier das Absprechen des Lebensrechtes) gründen. Daß Säuglinge ein Lebensrecht haben, heißt aber wiederum nicht, daß es nicht in bestimmten Fällen, eben bei absehbar qualvoller Existenz, im Interesse des Neugeborenen sein kann, sein Leben zu beenden.

Kuhse/Singer verletzen Tabus. Sie zwingen dazu, über die Gründe für ein fundamentales Verbot, das Tötungsverbot, nachzudenken und über den Wert eines Lebens, das aus der Sicht derer, die es leben (sollen), vielleicht nicht lebenswert ist. Es ist angesichts dieser Tabuverletzung bequemer, in den Chor aufgeregter Entrüstung von den Bischöfen bis hin zu den Behindertenvertretern einzustimmen, als sich an die argumentierende Auseinandersetzung mit den Argumenten von Kuhse/Singer zu machen. Wer in diesem Buch die Aussagen von Eltern schwerstgeschädigter Kinder, auch von Behinderten selbst gelesen hat, wird nur schwer an der Einsicht vorbeikommen, daß nur das geduldige und oft mühsame Abwägen von Argumenten, nicht aber eine emotionale Polemik den Fragen, um die es hier geht, gerecht werden kann.

Helga Kuhse/Peter Singer: „Muß dieses Kind am Leben bleiben? Das Problem schwerstgeschädigter Neugeborener“. Harald Fischer Verlag, Erlangen 1993, 317 Seiten, 38 DM

(1) Nur zwei Zitate aus der Diskussion in „Die Woche“: „(...) ich vergesse, daß Singer Schwerstbehinderten die Qualität als Person abspricht“ (Dr. P. Radtke, 1.7.93); „Früher wurden behinderte Menschen als ,nutzlose Esser‘ herabgewürdigt, heute nennt sie die Bioethik Menschen ohne Personeigenschaften.“ (Dr. M. Wunder, 8.7.93)

(2) Die Begründung von Dr. Michael Naumann, dem Geschäftsführer des Rowohlt-Verlages, für diese Entscheidung ist es wert, zitiert zu werden: Naumann berichtet, daß er „durch den Anruf einer für diesen Flügel der Gesellschaft (gemeint sind „extremistische Kreise“, Th.E.) zuständigen Behörde auf die Möglichkeit von Gewaltanschlägen gegen den Verlag oder gegen das Sortiment hingewiesen worden“ sei. Und weiter: „Ich hatte also abzuwägen zwischen der Sicherheit meiner Mitarbeiter und dem Schutz des Grundrechts auf Meinungsfreiheit. Weil aber Personenschutz nur Politikern gewährt wird und Personen aus der Wirtschaft – zum Beispiel Buchhändler und Lektoren – selbst dafür aufzukommen haben, mußte ich mich gegen das Buch entscheiden.“ („Buchreport“ v. 19.5.93, S. 8) Mußte? War das auch die Meinung der Buchhändler und Lektoren? War es ausgeschlossen, daß der doch sicher nicht ganz arme Rowohlt-Verlag einen Teil seiner Einkünfte für Sicherheitsmaßnahmen ausgab, wenn ihm denn schon ein Anruf des Staatsschutzes dermaßen in die Knochen gefahren ist? Wenn all jene Philosophen, denen wir das Grundrecht der Meinungsfreiheit letztlich verdanken, wenn Spinoza oder Voltaire oder Thomas Paine ähnlich bedachtsame Anwälte der Meinungsfreiheit gewesen wären wie Herr Dr. Naumann, dann würde heute im Rowohlt-Verlag wohl noch ein staatlicher Zensor sitzen.

Theodor Ebert lehrt Philosophie an der Universität Erlangen.