Das Grosseli vom weißen Moos

Ein Sommer auf der Schweizer Alp: Arbeit und nochmals Arbeit, egal ob es stürmt oder schneit / Der Käse ist für Bergbauern bares Geld / Im Zweisimmental regiert noch ungebrochen das Patriarchat  ■ Von Plutonia Plarre

Die Katastrophe bricht in tiefster Nacht über uns herein. Ganz still und heimlich. Aber da sind die Kühe. Anstatt sich oben auf dem Grat mit saftigen Kräutern den Magen vollzuschlagen, stehen die flachsfarbenen Simmentaler verstört vor dem Stall und fordern mit durchdringendem Muhen Einlaß. Der Grund: Es schneit. Mitten im Hochsommer tobt ein Schneesturm wie im tiefsten Winter.

Das Schweizer Bergbauern- Ehepaar Ruth und Hausi Walker ist verzweifelt. Daß es auf der 1.800 Meter hohen Alp auf dem Haslerberg im Berner Oberland im Sommer mal ein paar weiße Flocken rieselt, ist nichts Besonderes. Anders jedoch, wenn die grünen Hänge ringsum, so wie heuer am 11. Juli, unter einer hohen Schneedecke verschwinden. Denn nun müssen die Kühe im Stall bleiben und mit Heu notgefüttert werden. Prompt geht die Milchleistung drastisch zurück und damit die auf die „Sömmerungszeit“ beschränkte Käseproduktion – die Haupteinnahmequelle vieler Bergbauern wie den Walkers. Einzig und allein Anzahl und Qualität der schweren gelben Laiber entscheidet im Herbst darüber, ob sich die harte Arbeit auf der Alp gelohnt hat.

Der 32jährige Bergbauer Hausi, seine 27jährige Frau Ruth und ich – eine ungelernte Stallgehilfin aus Berlin – versorgen 32 Kühe, 33 Rinder und Kälber, diverse Schweine, eine Ziege und den Jungstier Romanoff. Die Hälfte der Tiere gehört den Walkers, die übrigen haben sie von anderen Bauern für die Sömmerung gegen Entgelt in Obhut genommen. Die Alpweiden am Haslerberg sind im Besitz einer Genossenschaft, an der 46 Bauern Anteile halten. Die Zahl der Tiere, die die Alp „bestoßen“ (weiden) dürfen, wird genauestens festgelegt, um eine Übernutzung zu verhindern. Der „Stoß“ entspricht dem Futterbedarf einer Kuh während einer Alpzeit, die durchschnittlich 100 Tage dauert.

Nach dem Schock auf nüchternen Magen braucht Hausi erst mal ein paar kräftige Schlucke Zwetschgenschnaps: seine „Herztropfen“ für Katastrophenfälle. Mittlerweile ist es hell geworden, und draußen tobt der Schneesturm noch immer. Im Radio hören wir, daß die Alpenpässe unpassierbar geworden sind. Für Bergbauer Hausi ist der Schuldige klar: Das Jahr steht im Regenten des Saturn und das bringt Unglück.

Doch Saturn hat Erbarmen. Nach zwei Tagen reißt die Wolkendecke. Aus dem glitzernden Schnee strecken Butterblumen und Alpenröschen ihre Köpfchen der Sonne entgegen. Es dauert nicht lange, und der weiße Spuk ist wie weggefegt. Jetzt wagen sich auch die Murmeltiere wieder aus ihren Höhlen. Nur hoch oben, am Rande des Gletschers, stehen die Felsen des majestätischen Wildhorns noch so, als seien sie mit Puderzucker überstäubt. Als wir im Stall die Knoten der Stricke lösen, rennen uns die Kühe fast um, so gierig sind sie darauf, endlich wieder auf die Weide zu kommen. Doch bis die fast um die Hälfte zurückgegangene Milchmenge sich wieder auf dem täglichen Maß von 500 Litern eingependelt hat, vergeht noch einige Zeit.

Ob Sonn- oder Werktag, der Arbeitstag der Bergbauern beginnt, wenn die Sonne aufgeht und dauert 16 Stunden lang: Zweimal täglich melken, käsen, die Tiere versorgen, Ställe ausmisten, im Hochwald Brennholz schlagen, Zäune richten, Jauche fahren. In den vergangenen Jahren haben Walkers die Alp ohne fremde Hilfe bewirtschaftet. Die Arbeit war für das junge Ehepaar mit zwei kleinen Kindern jedoch allein nicht mehr zu schaffen: Denn nebenher müssen im Tal Hof und Garten betreut und große Mengen Winterfutter gemacht werden.

Die Alpen in den großen Talenden werden bereits seit prähistorischer Zeit bewirtschaftet. Durch Rodung und angepaßte Nutzung entstand eine vielseitige Kulturlandschaft mit einem großen Artenreichtum. Doch sie ist in Gefahr. Laut Schweizer Käseunion gibt es zwar noch an die 10.000 Alpweiden, die ein Viertel der Staatsfläche bedecken. Aber es steigen immer mehr Bergbauern, die ohne die vielfältigen Subventionen überhaupt nicht mehr existieren könnten, auf andere Tätigkeiten um. Die Folgen für die Alpenlandschaft sind verheerend: Die unter der Baumgrenze gelegenen Weiden verbuschen. Die Wiesen oberhalb werden durch Erosion, Lawinen und Steinschlag verwüstet, versteppen oder der Boden rutscht an Steillagen ab. Allein im Berner Oberland ist die Zahl der Erwerbstätigen im landwirtschaftlichen Sektor zwischen 1980 und 1990 um 30 Prozent gesunken, hat der Geograph Werner Bätzing ermittelt.

Wenn Bergbauer Hausi früh in seine Gummistiefel steigt, ist dies das Zeichen zum Aufbruch – bei jedem Wind und Wetter. Mit dem „Töff“ (Geländemotorrad) geht es die Hänge „uähi“ und „ahi“ und „dörhi“ und „dörha“ über Stock und Stein. Solange, bis wir Reni, Netti, Bergschnee, Kirsche, Hase und alle anderen in den Blaubeersträuchern oder im Hochmoor aufgestöbert haben.

Wenn sich der morgendliche Nebel aus den Tälern hebt und das Steinadlerpaar über den Berggipfeln mit lautem „hiäh, hiäh“ seine Runden dreht, treiben wir die Herde mit energischem „hoi, hoi, hoi“ über Wiesen und Bäche zum Melken in den Stall.

Dort hocken wir uns auf einbeinige Schemeln, die am Hintern festgeschnallt sind, zwischen die dampfenden Leiber. Die Stirn ins duftende Fell gepreßt, massieren wir die Zitzen, weich wie Samt oder rauh wie Sandpapier, solange, bis die Milch einschießt und die Melkmaschine angestöpselt werden kann. Ringsherum furzen, scheißen und pissen die Kühe nach Herzenlust, während sie mit wohlig geschlossenen Augen widerkäuen. Die Entleerung der Gedärme erfolgt so schnell, daß kaum Zeit zur Flucht bleibt. Hat man es doch geschafft, peitscht einem unter Garantie ein uringetränkter Schwanz um die Ohren. Oberstes Gebot ist jedoch: die vollen Milcheimer zu retten, geht vor. Ausgerechnet jetzt fällt der eineinhalbjährige Kläusi mit dem Gesicht in einen dampfenden Fladen und schreit. Aber er muß warten.

Abends hat man nur noch einen Wunsch: ins Bett. Hände, Füsse und Kreuz tun weh, der Kopf dröhnt vom ständigen Stoßen an den niedrigen Türbalken, die Augen brennen vom Qualm des Feuers. Bergbäuerin Ruth versucht die starken Schmerzen in ihren Handgelenken mit zwei Kupferarmbändern zu lindern. „Im Herbst, im Tal, wird es wieder besser“, tröstet sie sich. Was die große, kräftige Frau am Tag klaglos wegschafft, geht auf keine Kuhhaut. Nach dem Stall produziert sie fast allein den Käse: Erst fischt sie die weißen Körner mit nackten Händen aus der 51 Grad heißen Molke des Kupferkessels. Dann wendet sie die 15 Kilo schweren Batzen solange, bis sie die Form von Käselaibern angenommen haben. Nebenbei wäscht sie das Melkgeschirr, kocht, besorgt Haushalt und Kinder, macht Rahm zu Butter, bürstet im Keller die fertigen Käse und betreut ihren Garten im Tal.

Auch einmal den Tisch zu decken, abzuwaschen oder Kläusi die Windel zu wechseln käme dem bärenstarken Bergbauern Hausi niemals in den Sinn: „Ich bin doch nicht für den Haushalt geboren.“ Im Zweisimmental lassen sich die Männer noch von ihren Frauen bedienen. Hier herrscht noch ungebrochen das Patriarchat. Aber Hausi Walker hat auch großen Streß: vor allem, wenn es heiß ist und unten im Tal große Mengen Heu eingebracht werden müssen. Wenn andere völlig ausgepowert Feierabend machen, muß Hausi wieder zum Melken und Ausmisten hoch in den Stall. „Vorsicht, er ist kriegerisch aufgelegt“, warnt Ruth dann. Aber wenn er seinen Mißmut daran ausläßt, daß das Nachtessen ein paar Minuten zu spät auf dem Tisch steht, platzt auch ihr der Geduldsfaden: „Ich glaube, ich muß dir mal wieder den Tarif durchgeben“, poltert sie in bestem „Bern-Dütsch“.

In der Regel herrscht in der kleinen Stube mit der Holzbank und den rot-weiß karierten Gardinen abends aber gute Laune. Besonders, wenn aus dem Radio Walkers Lieblingsmusik erklingt: die Jodelgruppe Edelweiß, oder – noch besser – „Grüsse von Alp zu Alp“, an die Großmutter, „das Grosseli vom weißen Moos“ oder „das Schatzi auf der Oxenweihalp“ über den Äther gehen.

Im Gegensatz zu seinem Herrn ist Jungstier Romanoff „fürs Haus gemacht“. Besser gesagt für den Stall, den er als einziger den ganzen Sommer nicht verlassen darf. Nur zwei mal gibt's Ausnahmen: um eine rindrige Kuh zu besteigen. Hausi führt die Kuh am Seil und ich lenke den Stier am Nasenring zu ihrem Hinterteil. Kaum, daß er seine Vorderbeine auf ihren Rücken schwingt, muß ich den Schwanz der Kuh zur Seite reißen, damit Romanoff sein Ziel nicht verfehlt: einmal rein und wieder raus. Nach zwei Wiederholungen – damit's auch sicher ein Kalb wird – ist der Stier so erschöpft, daß ihm eine Träne aus den Augen kullert.

Mitte August färbt sich das Gras gelb, einzelne Halme sind sogar schon weiß. „Es ist wie beim Menschen, der alt wird“, sagt Hausi. Der kurze Alpsommer geht zur Neige. Die Arbeit ist jetzt fast gemütlich. Wir melken nur noch 17 Kühe, der Rest ist hochträchtig und deshalb trockengestellt. Heidilo bekommt sogar eine Sonderration Heu, denn sie erwartet Zwillinge. Je näher der Tag rückt, an dem die Genossenschaftler des Haslerbergs entscheiden, wann ins Tal „gezügelt“ wird, desto melancholischer werden wir. Frauen haben in der Genossenschaft kein Stimmrecht. „Zum Glück“, findet Hans-Peter, unser Alp-Nachbar. „Sonst wären wir bestimmt noch Weihnachten hier.“ Was er wohl täte, wenn das Vorbild des Kanton Schwyz im Berner Oberland Schule machte? Dort haben die Frauen nämlich eingeklagt, daß der Verfassungsgrundsatz der Geschlechtergleichstellung auch für Alp-Genossenschaften gilt.

Am 2. September, einem strahlend schönen Tag, heißt es „Salü“ sagen. Ruth bringt die Hütte ein letztes Mal auf Hochglanz und fährt mit den Kindern im Jeep ins Tal. Hausi zieht sich seine guten Sachen an, legt den Kühen die großen, fünf Kilo schweren Treicheln um und bindet Blümi und Comtesse ein blumengeschmücktes Tannenbäumchen zwischen die ausladenden Hörner. Dann ist es soweit. Unter dem tiefen, feierlichen Klang der Treicheln und dem hellen Geläut der Glocken machen wir uns mit der Herde auf. Die Rinder streunen im Mittelfeld weit auseinander, gefolgt von den Kälbern, die ständig einen Klaps brauchen, weil sie sonst stehenbleiben. Die Ziege ist wie immer überall. Dem Zug voran schreitet Hausi, mit stolz erhobenem Haupt: Es war ein guter Sommer: 28.000 Liter Milch haben wir gemolken und zu 226 schweren Bergkäsen verarbeitet. Sie sind von einer solchen Qualität, daß sie beim Verkauf bestimmt den Höchstpreis von 14 Franken pro Kilo erzielen werden.

Zwei Tage später schlägt Saturn wieder auf dem Haslerberg zu. Mit einem Schneesturm, bei dem auch die besten Herztropfen der Welt versagt hätten.