■ Der dritte Jahrestag der Einheit, vom Pazifik aus gesehen
: Ein Glückwunsch und eine Warnung

Geburtstage von Staaten oder Völkern haben nur insoweit Sinn, als sie uns zwingen, über die Jubilare nachzudenken. Da macht auch der dritte Geburtstag Deutschlands (wie viele davon wird es zukünftig noch geben?) keine Ausnahme.

Meine Überlegungen sind ein Gemischtwarenladen. Beginnen wir mit dem Positiven. Noch immer bin ich wirklich begeistert, und noch immer staune ich, daß es tatsächlich einen dritten Geburtstag zu feiern gibt. Als Liberaler, als Jude, ja!, auch als Linker bin ich glücklich, daß der SED-Staat in der Mülltonne verschwunden ist. Dies um so mehr, als unter Intellektuellen beiderseits des Atlantiks sich ein merkwürdiger und beunruhigender DDR-Revisionismus breitmacht, der diesem Staat zu einer Legitimität verhilft, auf die er zu seinen Lebzeiten nie hätte hoffen dürfen. Als Liberaler in der Tradition Wilsons begrüße ich das Selbstbestimmungsrecht der Völker, und deshalb stehe ich auch jetzt noch zu Willy Brandts Sentiment, demzufolge zusammenwachsen soll, was zusammengehört.

Dieses Zusammenwachsen wird länger dauern, als jeder, einschließlich Brandt, angenommen bzw. gehofft hat. Aber die beiden Hälften werden zusammenwachsen und tun es bereits. Ich sehe hier die Dinge positiver, als es die gegenwärtige Mode in Ost und West vorschreibt. Natürlich gibt es zwei unterschiedliche Gesellschaften, und das wird lange Zeit so bleiben. Der siegreiche Norden hat nach dem Sezessionskrieg über hundert Jahre gebraucht, um die Sklavenhaltergesellschaft des Südens in so etwas wie ein vereintes Amerika zu integrieren. Und noch gibt es eine Menge Anzeichen dafür, daß dieser Prozeß bei weitem nicht abgeschlossen ist. Die Ossis werden Schritt für Schritt ihren Ärger über die Arroganz und den angeblichen Kolonialismus der Wessis verlieren, und sie werden aufhören, sich als Opfer eines Prozesses zu sehen, den sie selbst ursprünglich so mutig begonnen haben. Die Wessis dagegen werden in dem Maße weniger Irritationen zeigen und ein größeres Engagement gegenüber der Not der Ossis entwickeln, in dem letztere weniger auf ihre Bedürftigkeit pochen. Unterschiede und Konflikte werden bleiben – that's politics. Wenn auch nur ein wenig Luft aus dem pathetischen, vor Selbstmitleid triefenden öffentlichen politischen Diskurs genommen würde (überall gibt es nur Kalamitäten, Krisen und deren Übergang zur Katastrophe), wäre schon viel gewonnen.

Nun zu dem weniger Positiven. Vor allem bedrückt mich, daß im Ton, aber auch im Inhalt die Essenz der alten Bundesrepublik abbröckelt – schrittweise zwar, aber doch unübersehbar. An Beispielen ist kein Mangel. Nehmen wir die Verkrüppelung des Art. 16 Grundgesetz, zweifellos ein Schmuckstück der Verfassung und beispielhaft für das, was die Bundesrepublik, wenn schon nicht in den Herzen ihrer Bürger, so doch wenigstens im Bewußtsein führender Mitglieder ihrer politischen Klasse darstellte. Diese Führungsschichten verletzten ihr republikanisches Mandat aufs schwerste. Vor allem zeigte das Verhalten der beteiligten Politiker ein Maß an Feigheit und einen Mangel an Führung, den ich nie und nimmer für möglich gehalten hätte. Natürlich mag die Mehrheit der Deutschen – wie die Mehrheit der meisten anderen Völker auch – keine Ausländer. Natürlich legt ein verengt verstandener Begriff von „Demokratie“ nahe, daß die politische Klasse auch hier dem Volkswillen folgen sollte. Aber Führung – gerade in Fragen von so grundlegender Bedeutung – meint, sich über die Empfehlungen der jeweils jüngsten Meinungsumfragen zu erheben und genau das zu tun, was zwar richtig, nicht aber notwendigerweise populär ist.

Das Debakel um den Artikel 16 herum ereignete sich in keinem luftleeren Raum. Es ist Teil einer manifesten Strömung, deren Ziel es ist, das „Nationale“ wieder salonfähig zu machen. Hätte vier Jahre früher selbst Helmut „Bitburg“ Kohl es gewagt, einen Mann von der politischen Statur und den Ansichten Steffen Heitmanns als Kandidat für das höchste Amt im Staate vorzuschlagen? Ein nationaler Drift beginnt den öffentlichen Diskurs in Deutschland auf eine vorher unvorstellbare Weise zu infiltrieren, wenn nicht sogar zu beherrschen. Man braucht nicht einmal die Leitartikel der FAZ zur Kenntnis zu nehmen, um sich von dieser Gezeitenwende zu überzeugen. Gräfin Dönhoffs oder Klaus Hartungs Artikel und Kolumnen in der Zeit legen von diesem Trend ebenso Zeugnis ab wie die häufig so geschmacklosen Editorials von Rudolf Augstein im Spiegel. Am meisten schockiert mich die Tatsache, daß Autoren wie Tilman Fichter oder Wolfgang Kowalsky wohlwollend als Anhänger der „nationalen Linken“ apostrophiert werden – so geschehen in einem Interview mit Rainer Zitelmann in der Jungen Freiheit von Juli/August 1993. In diesem neuen Klima schießen die verschiedenen häßlichen Köpfe des Nationalbolschewismus aus dem Boden. All diesen Denkern ist die Sehnsucht gemein, die „Westbindung“ der Bundesrepublik zu lockern, Deutschlands Rolle als „Machtstaat“ neu zu bestimmen und seine Identität als eine Nation wie jede andere auch zu „normalisieren“. Um diesem Ziel näherzukommen, wünscht man, die Last der deutschen Geschichte abzuwerfen – wenn nicht auf einmal, dann wenigstens peu à peu.

Die Zeit arbeitet definitiv für diese Leute. In dem Maß, in dem der Druck aus allen möglichen internationalen Ecken (nicht zuletzt seitens der Clinton-Administration) zunimmt, Deutschland möge seiner gewachsenen internationalen Verantwortung gerecht werden, gewinnt das Lager der neuen Nationalisten mächtige Verbündete. Ein von diesen ausländischen Mahnern ungewolltes, nichtsdestoweniger aber trotzdem eingetretenes Ergebnis. Den neuen Nationalisten hilft auch der rigide Widerstand, den eine Reihe von Linken kategorisch jeder Teilnahme Deutschlands an jeglicher denkbaren internationalen Intervention, zu welcher Zeit und an welchem Ort auch immer, entgegensetzen. Gerade aber die wirklichen Erfahrungen der deutschen Geschichte in diesem Jahrhundert könnten, in einem ganz konkreten Sinn genommen, als eine sensible Richtlinie dienen. So scheint es mir, daß die Last der deutschen Geschichte es einfach nicht zuläßt, kaum fünfzig Jahre nach Auschwitz deutsche Soldaten irgendwo in Europa einzusetzen. Aber diese Haltung gilt nicht für Gebiete wie Kambodscha, Somalia und andere nichteuropäische Konfliktzonen, wo deutsche Soldaten sehr wohl unter der Ägide der UNO ihren Beitrag für den Frieden leisten könnten.

Alles in allem verdient dieser dritte Geburtstag gefeiert zu werden. Aber er ist genau so ein Tag der Vorsicht und der Warnung. Andrei Markovits

Der Autor lehrt politische Wissenschaften an der Universität von Kalifornien, Santa Cruz. Übers.: C.S.