„Wo sind unsere Toten verscharrt?“

25 Jahre nach den Militärschüssen, die Mexikos Studentenbewegung ein blutiges Ende setzten, liegt weiter die „schreckliche Tendenz zum Vergessen“ über dem Ereignis  ■ Aus Mexiko-Stadt Anne Huffschmid

Nördlich des prächtigen Zentrums von Mexiko-Stadt liegt der Platz von Tlatelolco, an den sich so schnell kein Tourist verirrt. In seiner grotesken Stillosigkeit spiegelt der „Platz der drei Kulturen“ die Bausteine mexikanischer Identität: Vertreten ist die aztekische Kultur mit freigeschaufelten Pyramidenresten; eine riesenhafte Kolonialkirche repräsentiert, im Wortsinn, die Erhabenheit der spanischen Erobererkultur, während daneben die mestizische Moderne in Gestalt von grauer Kastenarchitektur eindeutig am schlechtesten abschneidet.

Doch Tlatelolco hat noch eine andere, weitaus dramatischere Bedeutung: Vor heute genau 25 Jahren, am 2. Oktober 1968, hatten auf den Zwischengeschossen der grauen Hochhäuser die Scharfschützen Stellung bezogen. Auf dem Platz unter ihnen waren seit dem Nachmittag Hunderttausende von StudentInnen versammelt. Was als friedliche Kundgebung für den Abzug der Armee aus den Universitäten begann, wurde zu einem der brutalsten Massaker in der Geschichte des Landes.

Was genau in jener Nacht geschah, ist bis heute nicht geklärt. Gesänge, Protestchöre, plötzlich Schüsse. Schreie. Ratternde Maschinengewehre, aus Hubschraubern, Hochhäusern. Panik. Einige schaffen die Flucht nicht. Tote, Hunderte von Toten: Frauen und Männer, Junge und Alte, Protestierende und Schaulustige.

Am nächsten Morgen ist der Platz wie leergefegt. Die Zeitungen berichten vom Wetter. Unglaublich, aber wahr: Zwar gibt es unzählige Augenzeugenberichte über das Massaker – das Buch der mexikanischen Autorin Elena Poniatowska über „Die Nacht von Tlatelolco“ ist mit inzwischen 51 Auflagen eines der meistverkauften der letzten Jahrzehnte –, bis heute aber hat niemand eine vollständige Liste der in jener Nacht Erschossenen geschrieben.

Dabei hatten die StudentInnen mit ihrem Widersacher, dem damaligen Präsidenten Gustavo Diaz Ordaz, vorher eine Art „olympischen Waffenstillstand“ vereinbart. Genau zehn Tage später nämlich sollten die Spiele stattfinden, für die die mexikanische Regierung ein gigantisches Stadion gebaut hatte. Und die Spiele fanden statt. Kaum eines der beteiligten Länder hatte sich zu „den internen Angelegenheiten“ Mexikos auch nur äußern wollen. Als besonders enttäuschend empfanden die RebellInnen das diplomatische Schweigen des kubanischen Staatschefs, der immerhin die revolutionäre Sache ihres verehrten „Che“ vertrat. Überhaupt kam von außen kaum Unterstützung gegen die staatliche Repression. „Der Vorhang aus Nopal“ verstellte den kritischen Blick ausländischer Regierungen und Institutionen auf Mexiko, schreibt heute der Ex-Aktivist Joel Ortega.

Tlatelolco markierte den Höhe- und Schlußpunkt eines kurzen Sommers der Rebellion. Der Schock saß tief, die Bewegung löste sich auf. Einige verschwanden in Massengräbern, viele im Gefängnis, wieder andere im Untergrund. „Der Spuk“ – so die meist regierungstreuen Medien – hatte nur wenige Monate gedauert.

Erst im Sommer desselben Jahres hatte der Protest der StudentInnen begonnen, denen sich die politisierten SchülerInnen anschlossen: gegen die Bandenkriege an den Universitäten und Hochschulen, gegen die bezahlten Provokateure und die aufoktroyierte offizielle „Studentenvertretung“. Von Anfang an stand die Mobilisierung unter dem Zeichen gewalttätiger Repression. Raum für das friedliche Experimentieren von Gegenkultur blieb kaum. Der populäre Krimiautor und Ex-68er Paco Ignacio Taibo II beschreibt in seinem Essay „1968“, wie in diese kleine „seltsame Subkultur“ vor sich hin streitender „Maoisten, Neomarxisten, Spartakisten und ungefähr vier verschiedener Strömungen von Trotzkisten“, die außerdem noch Joan Baez hörten und Cortazar, Hemingway und Carlos Fuentes lasen, die Nachrichten aus der Wirklichkeit drangen – „die Uni ist von Soldaten besetzt, ein verhafteter Student hatte einen Hungerstreik begonnen“ – und aus ihr eine militante Protestbewegung machten.

Schon bei der ersten Großdemonstration am 26. Juli trieben Polizei, Soldaten und angeheuerte Schlägertrupps die Jugendlichen und StudentInnen mit zuvor unbekannter Brutalität auseinander. Nachdem sich diese von ihrer Fassungslosigkeit erholt hatten, begannen sie, Streikkomitees zu bilden, besetzten und bestreikten die Hochschulen und machten die Straßen und Plätze zum Schauplatz ihres Protests. Die Armee ihrerseits marschierte in die „aufständischen“ Universitäten, die Polizei machte Razzien und verhaftete „Rädelsführer“.

Dabei sahen die Forderungen harmlos aus: Nicht etwa die Revolution – wie im Pariser Mai – wurde verlangt, sondern „nur“ die Freilassung einiger politischer Gefangener, die Beendigung der Repressionswelle, die Verurteilung der verantwortlichen „Staatsterroristen“ und nicht zuletzt der öffentliche Dialog zwischen Studenten, Universitätsbehörden und Regierung. Aber schon diese „reformistischen“ Forderungen waren „tödliches Gift“ – so Joel Ortega – für das politische System Mexikos, das sich damals, noch stärker als heute, auf Präsidentialismus, Despotismus und Paternalismus gründete. Das Aufbegehren galt als der erste „regierungsfeindliche“ Aufstand seit der mexikanischen Revolution, die 1917 den Diktator Porfirio Diaz außer Landes getrieben hatte. Nur waren es 1968 die vermeintlichen Erben und Hüter dieser Revolution, die ihren EnkelInnen die Lust an der Revolte nehmen wollten.

Diese Lust aber droht heute zum „blutigen Mythos“ zu gerinnen, so meint zumindest der Autor Daniel Cazés. Er kritisiert die Tendenz, 1968 in Mexiko immer auf den 2. Oktober und seine „Märtyrer“ zu reduzieren und nicht als ewige Aufforderung und Ausgangspunkt für die „demokratische Umgestaltung“ des Landes zu sehen. Denn die Frage nach dem Scheitern einer Bewegung hänge von den Kriterien ab, die man dabei anlege.

Militärisch und formalpolitisch gesehen, sind die RebellInnen sicherlich gescheitert. In der politischen und sozialen Kultur des Landes aber hat sich in dem Jahrzehnt nach der Rebellion Entscheidendes geändert: Die erzwungene „Öffnung von oben“ hat die inhaltliche und zahlenmäßige Öffnung der Universitäten zur Folge gehabt, die Herausbildung einer „neuen Pluralität“ in Kunst, Kultur und Medien, in der dann auch „neue Subjekte“ – wie die mexikanische Frauenbewegung – ihren Platz in den Institutionen fanden.

Das Massaker aber blieb nationales Trauma – und Tabu. Seltsam dünn gesät sind die Romane, Theaterstücke und Filme, die das Tlatelolco-Drama zum Thema haben. Ein einziger Spielfilm ist darüber bislang produziert worden und, zum allseitigen Erstaunen, auch in die Kinos gekommen. „Rotes Erwachen“ (1990) von Jorge Fons ist tatsächlich eine kleine Sensation: Eine unbescholtene Familie, die in einem der Neubauten an dem Platz der drei Kulturen wohnt, erlebt von ihrem Fenster aus die Massakrierung der unbewaffneten StudentInnen – darunter zwei ihrer eigenen Söhne. Auch wenn die Kamera das Massaker nie direkt zeigt – der Film spielt sich, einem Kammerspiel gleich, nur in den vier Wänden der Familie ab –, so ist das Entsetzen im Gesicht der Mutter, die bislang an Gott und Vaterland geglaubt hat, beklemmend genug. Und es wird zum Sinnbild für das Entsetzen der mexikanischen Gesellschaft, die sich bislang ungläubig abgewandt hatte und sich dem Schrecken jetzt, möglicherweise, zum ersten Mal stellt.

Denn diese „schreckliche Tendenz zum Vergessen“, die dazu führt, daß in Mexiko „immer alles vergraben wird, so, als sei nichts geschehen“ – wie Elena Poniatowska einmal gesagt hat –, soll nun, 25 Jahre nach dem heißen mexikanischen Herbst, beendet werden.

„Wahrheitskommission“ sucht Opfer und Täter

Eine „Wahrheitskommission“, zusammengesetzt aus Ex-68ern und VertreterInnen unabhängiger Organisationen, verlangt jetzt Zugang zu den verschlossenen Regierungsarchiven. In einer großen Kampagne werden von ihnen Hunderte von Beteiligten, Opfern und Tätern, angeschrieben und aufgefordert, endlich das jahrzehntelange Schweigen zu brechen und ihre „Wahrheit“ über das Geschehen beizutragen. Heute schließlich werden – mit 25jähriger Verspätung – im Anschluß an die traditionelle Gedenkdemonstration auf dem Platz von Tlatelolco ein Denkmal und eine Gedenktafel mit den Namen von 20 der Hunderten von Erschossenen eingeweiht – die jüngste von ihnen ist 15, die älteste 68 Jahre alt.

Auf dem Schweigemarsch vor wenigen Tagen mit dem Motto „Damals wie heute: für die demokratischen Freiheiten!“ sprach Luis Cervantes Cabeza vor mehr als 10.000 TeilnehmerInnen: Es gehe nicht um Rache und auch nicht darum, „alte Wunden“ wieder zu öffnen, aber „wir wollen auch nicht vergessen“.

Trotz des eher versöhnlichen Tenors ist die Wunde nicht geheilt. Noch ein Vierteljahrhundert später ist die Frage von Paco Ignacio Taibo II ohne Antwort: „Wo haben sie unsere Toten vergraben? Wo, verdammte Scheiße, haben sie unsere Toten verscharrt?“