Rußland: Verhandlungen hinter Klostermauern

■ Jelzin ruft Abgeordnete zum Einlenken auf / Ring ums Parlament gelockert / Deputierte stellen immer höhere Forderungen / Unterstützung bleibt aus

Moskau (taz) – Mit versteinerter Miene forderte Präsident Boris Jelzin gestern in einem Fernsehinterview Rußlands aufmüpfige Abgeordneten auf, in ernsthafte Gespräche mit der Regierung einzutreten. Er ließ andererseits keine Zweifel aufkommen, daß er an seiner Entscheidung, das Parlament aufzulösen und Neuwahlen durchzuführen, festhalten werde. In der vorausgegangenen Nacht hatten bereits Vertreter beider Lager Verhandlungen aufgenommen. Es wurde sogar ein Protokoll unterzeichnet, woraufhin in den frühen Morgenstunden wieder Licht im „Weißen Haus“ brannte. Gleichzeitig zogen auch einige Sicherheitskräfte ab, die seit Tagen das Parlament abschirmen. In der näheren Umgebung hatten sich immer wieder Gruppen von Demonstranten und Polizeieinheiten kleine Scharmützel geliefert.

Als die Unterhändler des ehemaligen Gesetzgebers, Wenjamin Sokolow und Ramasan Abdulatipow, am Morgen ins Parlament zurückkehrten, erklärten die Abgeordneten die Vereinbarungen für null und nichtig. Die vom Parlament ernannten Alternativminister – Sicherheit, Inneres und Verteidigung –, allesamt Hardliner und Kriegstreiber, wiesen die Übereinkünfte zurück, gefolgt vom Präsidium des Parlaments. Statt dessen ernannte es einen neuen Verhandlungsbevollmächtigten, den stellvertretenden Vorsitzenden des Obersten Sowjets, Jurij Woronin.

Es zeichnet sich ab, daß die reaktionäre Riege ihre Waffen nicht aushändigen will – trotz mehrfacher Versicherung der Gegenseite, keine Gewalt anzuwenden und das Gebäude nicht zu stürmen. Das Ultimatum zur Räumung des Parlaments läuft am Montag ab. Die Parlamentarier schraubten hingegen die Bedingungen für einen Kompromiß mit der Regierung so hoch, daß Verständigung in immer weitere Ferne rückt. Sie erdreisteten sich sogar, die Anerkennung ihrer Gegenminister zu verlangen. Auf mehr als eine Inventarisierung der Waffen durch eine bilaterale Kommission gingen sie nicht ein.

Jelzin machte die Übergabe der Waffen noch einmal zur Vorbedingung für direkte Gespräche. Unabhängig von ihm trafen sich unter der Vermittlung des Patriarchen Alexej II. im Moskauer Danilowskij-Kloster Unterhändler beider Seiten. Über deren Inhalt wurde nichts bekannt. Greifbare Ergebnisse erscheinen ziemlich unwahrscheinlich.

Generalmajor Ruzkoi, der sich vom Parlament letzte Woche zum neuen Präsidenten hat küren lassen, wandte sich gestern mit dem Appell an die Führungen der GUS-Staaten, sich von Präsident Jelzin zu distanzieren. Die Präsidenten der einstmals sowjetischen Republiken hatten letzte Woche auf ihrem Moskauer Gipfel Jelzins Handeln einmütig unterstützt.

Ruzkoi leidet zunehmend an Realitätsverlust. In den Nachbarstaaten fürchtet man nichts mehr als die Rückkehr der rotbraunen Militärs, die schon heute von einem imperialistischen Rollback reden.

Jelzins Pressechef Kostikow nannte Ruzkois Äußerungen „Landesverrat“. Zuvor hatte der Generalmajor die Armee zur Meuterei und das Volk zum Generalstreik aufgerufen. Man will im „Weißen Haus“ einfach nicht wahrhaben, daß jegliche Unterstützung ausbleibt. Klau-Helge Donath