: Die Lust an der Schönheit obsiegt
■ Roland Petit mit „Dix“ an der Staatsoper Unter den Linden
Roland Petit choreographiert an der Staatsoper Unter den Linden ein Ballett zu den Bildern von Otto Dix. Das hätte eigentlich nichts anderes als einen Skandal geben können.
Die Radikalität von Dixens Bildern, so stellte man es sich vor, würde genauso radikal in Bewegung umgesetzt. Hier würde einmal die Welt des schönen Scheins konfrontiert mit den schlaffen, ausgesaugten Brüsten von Dixens Huren, den prallen Ärschen und den Bildern von Elend und Krieg, die einen das Fürchten lehren.
Der Skandal aber blieb aus. Gegen Dixens Obszönitäten und seinen gnadenlosen Blick hat bei Petit die Lust an der Schönheit obsiegt. Keinen Moment werden die Grenzen des guten Geschmacks überschritten, nie wachsen sich die Bilder zur Bedrohung aus. Kein Riß geht durch die Welt an diesem Abend – auf alle Fälle nicht im Saal der Staatsoper. Nichtsdestotrotz ist die keinesfalls plakative Umsetzung von Dixens Motiven großartig. In Bewegung gesetzt wird die Dynamik der Dixschen Bilderkomposition, erzählt werden assoziierte Geschichten. So im „Großstadttryptichon“, dem letzten von rund zehn aneinandergereihten Szenen. Die Auswahl trifft ins Zentrum der Dixschen Themen, Bilder über „Eros und Tod“ (wie es im Untertitel heißt), die zumeist riesengroß und ungeheuer wirksam (Bühnenbild und Licht: Josef Svobodá) auf die Bühnenrückwand projiziert werden: „Anita Berber“, „Walpurgisnacht“, „Der Krieg“, „An die Schönheit“. Getanzt wird zur von Petit ausgesuchten Musik der 20er und 30er Jahre, von Kurt Weill bis zu Arnold Schönberg (musikalische Leitung: Asher Fisch). In „Lustmord“, einem der dichtesten und dunkelsten Szenen des Abends, gelingt Petit eine eindringliche Studie: Er zeigt die Täterperspektive, die Wahrnehmung des Mörders, dem das weibliche Opfer zur Projektionsfläche gerinnt.
Auf die Zuckungen und körperlichen Selbstqualen des Mannes (Raimondo Beck) folgt das Erscheinen der Frau, als wäre es eine Zwangsläufigkeit. Als wäre sie nur gekommen, um seine Wünsche zu erfüllen, um ihn von seinen Qualen zu erlösen. Zusammengesunken und krampfhaft den Mantel mit ihren Händen umklammernd steht sie da, lockend und sich gleichzeitig der eigenen, unverhohlenen Gier schämend. Ihre Haltung verrät das Wissen um den Preis, den sie für ihre sexuelle Befriedigung bezahlen muß. Bezahlen wird. Die Projektion einer verzerrten Wahrnehmung, ausdrucksstark getanzt von Steffi Scherzer zu Sätzen aus Alban Bergs „Lulu-Suite“. Großartig auch Bettina Thiel als „Anita Berber“ und als „Modell“: Als vollkommen biegsames Objekt, gibt sie sich allen Wünschen des Malers (Michael Denard) hin und bleibt doch unerreichbar. Auf Männerhänden getragen, entschwindet sie in das Dunkel der Bühne; läßt ihn allein zurück mit seinem Gemälde, das den Maler monströs um ein Vielfaches überragt. Während die Männer des Corps de ballet die Soldatenuniformen mit Smokings vertauschen, um sich von Anita Berber ähnlich niedermähen zu lassen wie zuvor vom Sensemann, wächst sich ein zwischengeschobenes Pausenfüllsel zu einem der Highlights des Abends aus. Mario Perricone verfügt in seinen Bewegungen über einen individuellen Ausdruck, wie er dieser Tage im Ballett selten zu finden ist. Nicht zuletzt seine akrobatischen Stuhljonglierereien und sein kokettes Spiel mit dem Publikum machen den Abend dann doch noch zu einem Ereignis. Michaela Schlagenwerth
4., 8., 17. und 31.10. um 19.30 Uhr, Staatsoper Unter den Linden.
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