Premiere als Derniere

■ Eher melancholisch als traurig: "Weißalles und Dickedumm" von Caroline Serrau im Schiller Theater

Fernsehteams drängelten sich im Foyer, Rundfunkreporter hielten den Ankommenden ihre Mikrophone vors Gesicht, allen feuerpolizeilichen Vorschriften zum Trotz säumten platzkartenlose Zuschauer die Aufgänge, jeder schaute sich nach jedem um. Die letzte Premiere im Schiller Theater, Coline Serreaus „Weißalles und Dickedumm“ in der Regie von Benno Besson war ein Ereignis – nicht nur fürs Feuilleton. „Wer ist das?“ fragt ein Mikrophonträger, als Bernhard Minetti die Stufen zum Eingang erklimmt und von den Umstehenden beklatscht wird. Wo Proteste nichts mehr nutzen, wird gefeiert. Die Raketen für das Mitternachtsfeuerwerk standen bereit, während nebenan die Leuchtschrift „Schiller-Werkstatt“ bereits abgebaut wurde.

Am Ende gab es mindestens zwanzig Minuten stehende Ovationen, die Schauspieler klatschten dem Publikum, dieses jubelte zurück und holte das Ensemble immer wieder vor den eisernen Vorhang. Der Beifall galt nur zum Teil Bessons Inszenierung. Es war ein Abschied von den Schauspielern, vom geräumigen Haus, von einer spektakulären Schlacht um den Erhalt des Staatstheaters in Berlin. Roloff-Momin, der Kultursenator, wurde nicht gesehen. Von Trauer war jedoch bei diesem Abschiedsabend nicht allzuviel zu spüren, nur ein paar Schauspieleraugen glänzten feucht vor nicht unterdrückten Tränen. Im Parkett und auf dem Rang überwog die bloße Lust am Ereignis.

Coline Serreaus Posse, die hier erstaufgeführt wurde, liegt ganz auf der Linie ihres Publikumsrenners „Hase Hase“: flott, bunt, amüsant, etwas schrill und ohne allzuviel gedanklichen Ballast. Ein Stationenstückchen, in dem das Clownspärchen Weißalles und Dickedumm in die weite Welt fährt, die Liebe und sich selbst auch ein bißchen besser kennenlernt und zum Schluß mit den himmlischen Heerscharen eine Doppelhochzeit feiert. Die Weite und Tiefe der Bühne nutzend, hat Benno Besson dies geschickt, verblüffend einfach manchmal, reichlich albern zuweilen, inszeniert.

Ein Teil der Wirkung kommt von Ezio Toffoluttis Ausstattung. Am Anfang steht ein riesiger Modellkopf auf der Bühne, dessen Augen mit einem Maßband verbunden sind. Eine Parkettsitznummer ist unten angebracht: 2. Auf dem Aufführungsplakat sind Weißalles und Dickedumm janusköpfig im Profil zu sehen, und sie tragen eine 1 auf dem Hals. Als Nummer 3 muß man sich wohl das Spiel von Weißalles und Dickedumm selbst denken: ein Nicht-mit-dir- und-nicht-ohne-dich-Pärchen, von dem gleich die Rede sein wird. Toffolutti hat sich eine Bühne riesiger Versatzstücke ausgedacht, die allesamt wie Holzspielzeuge aussehen: Ein Auto wird auf die schwarze Spielfläche geschoben, eine Dampferfassade gar. Später wachsen Tannen aus dem Boden, die wie Farne aussehen; aus Wüsten wird Gras, und auf Befehl entspringt ein Fluß aus den Kulissen. Die Szenen heißen „Essen“, „Der Brief“ oder „Überfahrt“, die Titel sind auf den Vorhang geschrieben und werden bei Bedarf angestrahlt. Hier wird gespielt, und alle sollen's sehen.

Und wie gespielt wird. Katharina Thalbach und Michael Maertens sind gleich mit dem ersten Satz voll da und wundervoll in ihren Chargen. Thalbach als Dickedumm ist anzusehen wie ein feistes Ei mit Wattehosen, ausgestopftem Bauch und öliger Frisur. Maertens trägt erst einen Morgenrock aus roten Samt und Strumpfhalter, später einen Smoking. Er ist, mit weißgeschminktem Gesicht, durch und durch Ästhet und Möchtegernintellektueller. „Erhebe, erhebe“, ruft er angewidert, wenn Dickedumm über die Erde philosophiert, als wäre sie ein nahrhafter Körper. Gelegentlich wirft er auch das wenige Hab und Gut der beiden in den Fluß – „ein Anfall von Minimalismus“. Süchtig nach Schöngeistigem, ekelt ihn sein Gefährte, und er braucht ihn doch. Denn Dickedumm liebt seinen Schikaneur natürlich, so sehr er dessen Schwächen auch durchschaut. Thalbach zieht alle Register, bricht beständig in einen wildwuchernden Charlestonschritt aus und ist auch sonst naiv und schlau und fröhlich.

Auch die anderen Rollen schmarotzen von ihren Schauspielern. Walter Schmidinger als „Rothut“ und Engelskommandant „Schmidengel“, der „Pflanzengel“ Stefan Merki, die „Baronin“ Ursula Karusseit, die „Pianistin“ Steffi Kühnert – alle sind markant und auch angemessen komisch. Diese Posse ist todsicher, wenn man sie zu besetzen weiß. Der Text allein aber ließe wohl kaum einen auch nur aus den Kulissen kriechen.

Die Premiere war eine Derniere für das Schiller Theater, nicht aber für seine Schauspieler. Im Berliner Ensemble, wo Besson schon vor vierzig Jahren inszenierte, wird die Produktion noch einige Male zu sehen sein. Es schließt ein Haus. Das Theater geht weiter. Petra Kohse