■ In Moskau eskaliert der Machtkampf
: Zeitpunkt verpaßt

Wer konnte sie eigentlich noch ernst nehmen, jene rund 200 Abgeordneten, die seit mehr als einer Woche im Weißen Haus ausharrten und ständig neue, von niemandem umgesetzte Beschlüsse faßten, jenen „Präsidenten“ Ruzkoi, der nicht müde wurde, die BürgerInnen Rußlands zu einem Generalstreik aufzurufen, der von niemandem befolgt wurde? Und doch hat sich ihre Ausdauer gelohnt, brachten ihre plumpen Parolen gegen den „betrunkenen Faschisten Jelzin“ die nun geernteten Früchte. Nachdem es am ersten Wochenende nach der Auflösung des Parlaments durch Präsident Jelzin weitgehend ruhig geblieben war, durchbrachen eine Woche später rund 10.000 Demonstranten die Barrikaden: Das Moskauer Rathaus wurde gestürmt, den Angehörigen des Sicherheitsdienstes mit Lynchjustiz gedroht. Mit Stahlrohren ausgerüstete RentnerInnen prügelten über 20 Polizisten krankenhausreif, mindestens drei Mitglieder der Sicherheitskräfte wurden getötet.

Verantwortung für diese Eskalation des Machtkampfes trägt aber auch Boris Jelzin – doch dies nicht wegen der Auflösung des Parlaments, sondern wegen der mehr als entwürdigenden Umstände, die diese begleiteten. Schließlich amüsierte sich mindestens die Hälfte der Nation köstlich über die um ihre gewohnten Behaglichkeiten gekommenen Volksdeputierten: Kein Strom, kein Telefon, und auch die Versorgung wurde immer schlechter. Ein Rückzug „in Ehren“ war für die Belagerten so nicht mehr möglich. Selbst russische Menschenrechtsorganisationen, die niemand ernsthaft verdächtigen kann, mit Ruzkois zu sympathisieren, protestierten.

Die Taktik Jelzins war es von Anfang an, die Aktionen der Gegner totzuschweigen. Die von seinen Anhängern geleiteten Medien beschränkten sich auf minimale Berichte über das Geschehen im Weißen Haus. Doch das Aushungern der Abgeordneten hatte nur in den ersten Tagen Erfolg. Nachdem einige das sinkende Parlamentsschiff verlassen und zu Jelzin übergewechselt waren, waren die anderen um so entschiedener bereit, ihre Positionen zu verteidigen. In diesem Moment hätte der Präsident die Flexibilität aufbringen müssen, auf die zahlreichen Kompromißvorschläge einzugehen – oder er hätte den Mut haben müssen, die Entwaffnung der Parlamentsabgeordenten und ihrer Anhänger notfalls auch mit einem „Sturm auf das Weiße Haus“ durchzusetzen. Den Zeitpunkt für diese Entscheidung hat er verpaßt. Wie bereits nach dem Volksdeputiertenkongreß im Dezember und dem Referendum im April hat er seinen Vorsprung nicht ausgenutzt.

Am späten Sonntag nachmittag marschierten die Demonstranten auf die Gebäude des Rundfunk- und Fernsehsenders Ostankino zu. Schon in den vergangenen Tagen war politischen Beobachtern aufgefallen, daß die Zahl der Sicherheitskräfte vor dem Weißen Haus eher gering war. Jetzt sollen bei der Erstürmung des Rathauses viele Polizisten geflohen sein, da die erwartete Verstärkung nicht eintraf. In dieser Situation verhängte Jelzin schließlich den Ausnahmezustand über Moskau. Für die belagerte Opposition im Weißen Haus wird es ein Beweis mehr für den diktatorischen Charakter des Regimes sein. Doch es war notwendig. Sabine Herre