Von Feuerköpfen und verbrannten Messen

■ Sehr inflammable Musik im Dom: Gardiner mit Berlioz' „Messe solenelle“ und Verdis „Quatro pezzi sacri“

Unerwartetes ereignete sich im Bremer Dom am Sonntag abend. Obwohl das angekündigte Konzertprogramm Geistliches verhieß (eine feierliche Messe und vier Quatro Pezzi Sacri), öffnete sich vor staunendem Publikum der Vorhang einer imaginären Bühne.

1.Szene: Ein junger Musikstudent mit wirrem Haar, die Augen genialische Funken versprühend - bekritzelt fieberhaft riesige Notenblätter: Eine Messe will er schreiben, anders als die bisherigen, kühner, lauter, eindringlicher, etwas nie Gehörtes, das das Publikum elektrisieren und - worauf er großen Wert legt - seinen Musikprofessoren schreckliche Pein bereiten wird.

2. Szene, selbes Bühnenbild - durchs zerbrochene Fenster schneit es. Auf dem Schreibpult liegt die voluminöse Partitur der „Messe Solenelle“, darauf ein zerbrochenes Glas. Rotweinflecken überall. Zertrümmert, zerknickt: Hector Berlioz, denn niemand anders ist unser Musikstudent. Er streicht noch, ändert und hat doch schon begriffen: Er hat versagt. B. faßt einen historischen Entschluß: Er stopft das Papier in den Bollerofen. Vorhang.

Der Zuschauer aber weiß, daß sich dies Ofenfeuer wenig später zum Feuersturme ausweiten wird. (Frei nach H. Berlioz Memoiren)

2. Akt Auf italienischen Landsitz. Im offenen Kamin glimmen schwere Holzscheite. Im Lehnstuhle schaukelt ein Greis (es ist nicht H.B.). Auf den Knien ein Stapel Notenblätter. Das Deckblatt fällt dem Greise aus den Händen. Ein würdiger Herr mit dickem Bauche und goldener Uhrkette hebt es auf und empfängt den dazugehörigen Rest. Verdis Verleger weiß, er hält Unschätzbares in den Händen. Des Maestros Vermächtnis, sein letztes Wort an die weltumspannende Fangemeinde. Die Größe des Augenblickes wird etwas gestört durch ein Genuschel des Greises, irgend etwas wie „Seien sie froh, daß es keine Oper ist“. Der Kamin erlischt. Der Vorhang fällt, der Zuschauer aber weiß, daß in diesen Blättern all das Feuer lodert, das der Alte in seinem Leben zu entfachen wußte (frei nach Programmheft).

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Diese musiktheatralischen Szenen über Werden und Vergehen des Künstlerlebens und die damit verbundenen Feuersbrünste verdanken wir John Eliot Gardiner. Er war mit „seinem“ Monteverdi-Choir und dem Orchestre Revolutionnaire et Romantique im Bremer Dom im Rahmen eines Sonderkonzertes des Musikfestes bzw. Bach-Festes wieder einmal zu Gast in Bremen.

Von der in Flammen aufgegangenen Berlioz-Messe fand sich zufällig eine Kopie in Antwerpen. So konnten die Bremer das „Remake“ der Uraufführung von 1827 (von der durchaus wohlwollende Kritiken überliefert sind) erleben.

Berlioz „Jugendsünde“ enthält neben etlichem Konventionellen bereits all das, was des Meisters späte Werke so aufregend macht: Kühne Melodien, beharrliches Bohren, unerwartetes Bürsten gegen den Strich, konsequente architektonische Arbeit, das Experimentieren mit Klanggruppen und Klangmischungen und das theatralische Auskosten extremer Dynamik.

Einiges hat Berlioz später wieder verwendet. Das Te Deum klingt an, man hört das Dies irae aus dem Requiem - mit überraschenden Wendungen - und man begegnet der „Erstfassung“ der überwältigenden Karnevalsszene aus Benvenuto Cellini (hier dient sie der Danksagung an den Herrn). Man spürt, Berlioz sucht noch nach Inhalten, die zu seinen musikalischen Ideen passen.

Verdis vier geistliche Stücke sind keineswegs Renner wie das im letzten Jahr von derselben Truppe mit überwältigendem Erfolg aufgeführte Requiem. Ihnen fehlt der operndramatische breite Aufbau, in den sich der Hörer so recht wohlig-schauernd einfühlen kann. Ihre Dramatik entwickelt sich in den vom Orchester begleiteten Stabat mater und Te Deum konsequent aus dem liturgischen Text; Wiederholungen und damit auch gefühlsträchtiges Auskosten fehlen. Man hört des Maestros letztes Werk mit Staunen. Es faßt Stil und Ausdrucksvermögen des frühen und späten Verdi auf engem Raum mit größter Meisterschaft zusammen.

Mit größter Meisterschaft gingen auch Gardiner, Orchester, Chor und die Solisten Donna Brown, Sopran, Jean-Luc Viala, Tenor, Gilles Cachemaille, Bass, ans Werk, wenn auch nicht mit der erwarteten Perfektion.

Berlioz Messe wurde durchweg schlank, in den konventionellen Teilen mit Mendelssohnscher Eleganz musiziert, Berlioz' schroffe Ausbrüche aus dem Überkommenen waren deutlich markiert.

Nicht immer aber war in der pauschalierenden Domakustik alles zu hören, die Solisten wurden oft von Chor und Orchester zugedeckt. Beim Hören der Verdi-Stücke half die Vertrautheit mit dem Werk: Höchste Klangkultur im Orchester, höchste Sangeskultur im Chor und Gardiners Gestaltungskraft ließen Verdis glutreiches Alterswerk äußerst differenziert und durchsichtig - gleichwohl klanggewaltig - ertönen. Das Bremer Publikum dankte bei Berlioz mit etwas irritiertem Beifall, bei Verdi aufrechten Herzens. Mario Nitsche