■ Boris Jelzins Zurückhaltung – dem Westen zuliebe – führte zum massenhaften Blutvergießen
: Das Ende vom Lied

Panzer schießen die letzten Abgeordneten aus ihren Löchern in Moskaus Weißem Haus. Passanten brechen unter dem Kugelhagel vor dem Fernsehzentrum Ostankino zusammen, das die rotbraunen Putschisten besetzt halten. Die Rohre ihrer Granatwerfer zielen auf Wohngebiete rund ums Fernsehen. Auf Moskaus Straßen bleibt es ruhig. Stunden vergehen, bis die Armee eintrifft. Die lange Zurückhaltung des Militärs läßt sich nur schwer nachvollziehen. Statt dessen sammelten sich vor dem Moskauer Stadtsowjet Freiwillige, Anhänger Jelzins, notdürftig mit allerhand Schrott bewaffnet, der sich bestenfalls für den Nahkampf eignet. Was noch hätte Jelzin unterlassen müssen, um der Welt zu demonstrieren, daß er den Konflikt friedlich beilegen wollte? Und das alles wegen einer Weltöffentlichkeit, die eine fragwürdige Verfassung – ein lächerliches Stückchen Papier – hochhält, um einem Haufen Fanatikern und gewissenlosen Altbolschewisten ihre Immunität als Abgeordnete zu garantieren.

Die Hintermänner des Blutvergießens, ihre Brutalität, ihre Verantwortungslosigkeit und ihre Nichtbeachtung der Menschenrechte sind seit langem kein Geheimnis. Jeder, der hinhörte, hätte es vernehmen können. Auch wenn sie sich hinter dem Mantel des Parlaments versteckten: Ihre wahren Absichten haben sie auch dort nicht verschwiegen. Bluthunde wie Makaschow haben immer schon vom Befreiungsschlag gedröhnt. Generalmajor Ruzkoi wollte die UdSSR wiederentstehen lassen. Vom Balkon des Weißen Hauses rief er die Männer zur Meuterei auf. Seit Monaten arbeiten sie auf einen Bürgerkrieg hin, doch keiner wollte es hören. Statt dessen fragt man sich im Westen, ob Ruzkoi nicht doch ein Sozial-

demokrat sei. Wie weit kann der Zynismus noch gehen?

Jelzin hat gezögert. Er hat gezögert, dem Wahnsinn ein Ende zu machen, weil die Weltöffentlichkeit ihn warnte: Seine Handlungen werde man nun genau beobachten. Diese Ankündigung der US-Administration vom letzten Dienstag hat Rußland riesigen Schaden zugefügt und die Menschen in Leid gestürzt. Der Schwenk der Amerikaner, den Präsidenten bedingungslos zu unterstützen, spricht sie nicht von Mitschuld frei.

Viele haben sich schuldig gemacht. Auch solche sozialdemokratischen Träumer wie Carsten Voigt, die von Verfassung faseln und sich schon nach neuen alten Gesprächspartnern in Moskau umschauen wollen. Haben sie eigentlich nichts begriffen? Wollen sie dem russischen Volk vorschreiben, mit wem es zu marschieren hat? Wie weit kann linke Verblendung eigentlich gehen – oder sind es süße Erinnerungen an das privilegierte Moskau der Breschnew-Zeit? Diese Ablaßlinken führen die Öffentlichkeit in die Irre. Wenn Generalmajor Ruzkoi an seine Offiziersehre erinnert werden muß, sollten sich diese Schwadroneure fragen, wann sie das letzte Mal eine treffende Analyse abgeliefert und dann die Konsequenzen daraus gezogen haben.

Das gleiche gilt auch für den Großteil der Presse, die sich immer auf ihre fadenscheinige Informationspflicht rausreden kann. Bisher ist es ihr nicht gelungen, ein wahrheitsgetreues Rußlandbild zu liefern. Wenn CNN noch nach dem Gewaltausbruch dem minderjährigen Lumpenproletariat vor dem Parlament die Verteidigung der Verfassung um die Brust hängt, dann fehlen einem jegliche Worte. Die Aufwertung der Gewalttäter Ruzkoi, Chasbulatow und Makaschow haben sich auch unsere elektronischen Medien vorzuwerfen. Jedesmal, wenn sie diesen Marodeuren die Mikrophone vor die Schnäbel gehalten haben, stärkten sie deren Durchhaltewillen und versahen sie mit einer fragwürdigen Legitimität.

Soviel Blut hätte nicht fließen müssen. Wir warten auf die nächste Anti-Jelzin-Kampagne der westlichen Presse. Will sie Gorbatschow zurück, weil der besser mit Messer und Gabel umgehen kann? Das Fernsehzentrum war schon besetzt, Journalisten verwundet, da forderte dieser Friedensengel Jelzin auf, die Armee aus Moskau abzuziehen. Beim Militär nennt man das Verrat. Hier ist es blanker Opportunismus. Jelzins Hände sind blutig. Er hat es nicht gewollt. Klaus-Helge Donath, Moskau