Ostsee: Chemische Zeitbombe

In Moskau sind die Unterlagen über in der Ostsee versenkte Chemiewaffen der deutschen Wehrmacht noch immer unter strengem Verschluß  ■ Von Ojars J. Rozitis

Berlin (taz) – 1.004 Senfgas-Behälter von jeweils 1,5 Tonnen Gewicht und 189 Tonnen Cyanide aus Beständen der deutschen Wehrmacht sind von der UdSSR 1947 in der Ostsee versenkt worden. Diese Schreckenszahlen hat kürzlich Boris Surikow, wissenschaftlicher Mitarbeiter am USA-und-Kanada-Institut der russischen Akademie der Wissenschaften, veröffentlicht. Surikow war seinerzeit Mitautor des sowjetischen Konzepts für eine strategische Verteidigung. Heute gilt sein Hauptinteresse der Abrüstung.

Obgleich die amtlichen Unterlagen über die Beseitigung der deutschen Chemiewaffen einschließlich der genauen geographischen Angaben zu deren Lagerstätten in Moskau noch immer unter strengem Verschluß gehalten werden (mit dem Vermerk: „Besonders geheime, nie zu veröffentlichende Information“), ist es Boris Surikow gelungen, vor allem aus Augenzeugenberichten den Verlauf dieser Aktion zu rekonstruieren, die sich für die Zukunft im ungünstigen Fall als eine Umweltkatastrophe sondergleichen erweisen könnte.

Seinen Aussagen zufolge reichen bereits weniger als fünf Gramm Senfgas aus, um einen Menschen zu töten; mithin käme die in der Ostsee versenkte Menge des Stoffes dem 150millionenfachen Tod gleich.

Die schwer wasserlösliche Flüssigkeit, bei der es sich chemisch um Dichlordiäthylsulfid handelt und die auch unter den Bezeichnungen Lost, Yperit und Gelbkreuz sowie dem Kürzel LD-50 bekannt ist, wurde von den Deutschen zum erstenmal im Ersten Weltkrieg 1917 bei Ypern in Belgien eingesetzt. Sie durchdringt Textilien und Leder, zerstört Augen, Atemwege und Lungen und erzeugt schwer heilende Wunden auf der Haut. Bei den Cyaniden wiederum handelt es sich um gleichfalls hochtoxische Salze der Blausäure.

Bei Ende des Zweiten Weltkrieges fielen den Siegermächten mehr als 250.000 Tonnen dieser und anderer Chemiewaffen in die Hände. Die USA, Großbritannien, Frankreich und die Sowjetunion kamen damals überein, daß sie jede für sich die in ihrer Besatzungszone vorgefundenen Vorräte an Kampfstoffen beseitigen würden.

Dabei hatte die UdSSR-Regierung zunächst vor, berichtete Boris Surikow, die giftigen Substanzen an einer der tiefsten Stellen des Atlantiks zu versenken – ungefähr 200 Meilen nordwestlich der Färöer-Inseln. Dieser Plan sei bereits so gut wie gebilligt gewesen, als man sich in Moskau plötzlich dazu entschlossen habe, auf die viel nähere Ostsee auszuweichen.

Die geheime Operation begann in der zweiten Hälfte des Jahres 1945. Zunächst wurde im pommerschen Ostseehafen Wolgast alles gesammelt, was es zu beseitigen galt – neben diversen chemischen Waffen auch fast 410.000 Granaten und 71 Millionen anderer Sprengkörper.

Im Mai 1947 liefen die ersten acht Schiffe mit ihrer tödlichen Fracht aus Wolgast aus. Ihr Ziel lag 70 Meilen nordwestlich der lettischen Hafenstadt Liepaja, etwa auf halber Strecke zur schwedischen Insel Gotland. An dieser Stelle wurden etwa 5.000 Tonnen chemischer Waffen in 105 Meter Tiefe versenkt.

Als jedoch den sowjetischen Machthabern deutlich wurde, daß die Beseitigungsaktion infolge des langen Transportweges mit einem beträchtlichen Zeitaufwand verbunden sein würde, habe man, so Boris Surikow, im weiteren Verlauf des Sommers beschlossen, in einem nähergelegenen, 600 Quadratkilometer großen Seegebiet östlich der dänischen Insel Bornholm verschiedenste Kampfstoffe auf dem Meeresgrund zu verstreuen.

Mit Rücksicht darauf, daß es sich bei der Ostsee um ein Binnenmeer mit sehr geringer Selbstreinigungskraft handelt, fordert Boris Surikow in dem Interview unverzügliche und entschiedene Schritte zur Verhinderung einer Umweltkatastrophe, „die Tschernobyl übertreffen würde“.

Kein Zufall, daß er die unheimlichen Lagerstätten unter Wasser mit dem Begriff „Sarkophag“ belegt: so wird nämlich auch die heutige Ummantelung des ukrainischen Unglücksreaktors genannt, die zwar die Sicht auf die Gefahr verwehrt, sie aber keineswegs zu bannen vermocht hat.

Wie seit längerem bekannt, hat Korrosion den versenkten Behältern schon zugesetzt, Ostseefischer finden immer öfter verklumpte Kampfstoffe in ihren Netzen. Immerhin gehe es um den Lebensraum von rund 80 Millionen Anrainern, erinnert Boris Surikow und verweist darauf, daß russische Militärchemiker bereits eine Technologie zur Bergung der toxischen Zeitbomben entwickelt hätten. Dabei soll über die Lagerstätten eine Art von riesiger Kuppel errichtet werden, unter der die angerosteten Behälter angehoben und dann in Eis eingefroren werden; sie ließen sich dann ohne Gefahr für die Umwelt abtransportieren und einer sicheren Entsorgung zuführen.

„Zweifelsohne ist das eine sehr teure Technologie. Aber sind denn Kriege und deren Vorbereitung nicht die teuersten Vorhaben überhaupt gewesen?“ fragt der pensionierte General Boris Surikow nachdenklich-provokant.