Per Verfassung beinahe in die Diktatur marschiert

■ Die russischen Abgeordneten kämpften um den Erhalt ihrer Privilegien, das Volk hatte ihnen bereits in einem Referendum im April das Vertrauen aufgekündigt

Eigentlich hatte Boris Jelzin damit gerechnet, daß der Widerstand um die Auflösung des russischen Parlaments schneller zusammenbrechen würde. Nennenswerten Protest aus der Bevölkerung gab es auch nicht. Die meisten Russen waren es leid, die ständigen Störmanöver der Abgeordneten weiter zu ertragen. Wußten sie doch, daß diese kleine Minderheit um nichts anderes kämpfte als den Erhalt ihrer Privilegien. Jelzin verletzte die geltende Verfassung. Doch diese war nicht viel mehr als ein heilloses und widersprüchliches Flickwerk aus kommunistischen Zeiten. Sie sah nicht einmal die Möglichkeit einer neuen Verfassungsgebung vor. Das Gesetzeswerk war für die Ewigkeit produziert. Seit einem Jahr legten sich die Gesetzgeber bei jeder Regierungsmaßnahme quer und erhoben sich in den Rang einer Gegenregierung zu Jelzin.

Daran änderte auch das Vertrauensreferendum nichts, das Jelzin im April abhalten ließ. Mehr als 60 Prozent der rund 150 Millionen Einwohner Rußlands beteiligten sich damals an der Abstimmung und sprachen ihrem Präsidenten mehrheitlich nicht nur ihr Vertrauen aus. Sie unterstützten auch seine Wirtschaftspolitik und erteilten den Deputierten des Volkskongresses eine schallende Ohrfeige. Das Volk hatte ihnen damit deutlich ihr Mandat aufgekündigt. Dies trieb die Deputierten um so mehr in die Verweigerungshaltung und Obstruktionspolitik. Chasbulatow, der Vorsitzende des Obersten Sowjets, spielte die Klaviatur der Verfassung und suchte sich Verbündete auf den Ebenen der staatlich hochbestallten Funktionäre. Er fand sie in den parteiischen Richtern des Verfassungsgerichtes. Dessen Vorsitzender Sorkin griff offen in die Politik ein – zugunsten Chasbulatows –, doch alles unter der Maske des sich auf Gesetze berufenden neutralen Schiedsrichters. Er provozierte Konflikte, um dann anschließend als Vermittler aufzutreten. Mehrmals fiel die Regierung darauf herein.

Die Auflösung des Parlaments bedeutete fast das endgültige Aus dieses permanenten Theaters. Nicht ganz, denn auch letzte Woche unternahm Sorkin noch einen „Vermittlungsversuch“. Er forderte Jelzin auf, zeitgleich Parlaments- und Präsidentenwahlen durchzuführen und mahnte das Parlament zur Vernunft. Dabei verlor er kein Wort über dessen Verfassungsverstöße und die Ernennung Ruzkois zum Präsidenten. Sorkin spielte auf Zeit. Er mußte wissen, daß eine Verschleppung der Lösung die Gefahr eines gewaltsamen Aufstandes verstärken würde. Im umstellten Parlament war er ständig zu Gast, um zu wissen, wie weit die Vorbereitungen und Aufrüstung des Weißen Hauses gediehen waren. Außerdem kannte er den Fanatiker Makaschow und war Zeuge, wie Generalmajor Ruzkoi jeglichen Sinn für die Realitäten verlor. Sorkin warnte nicht, auch nicht nachdem die gemäßigteren Abgeordneten das Parlament verließen. Weiterhin redete er von der Notwendigkeit eines Kompromisses. Warum konnte sich der Verfassungsrichter nicht mit dem Gedanken an Neuwahlen abfinden? Wenn eine der Staatsgewalten kein Vertrauen mehr in der Bevölkerung genießt, muß sie sich Neuwahlen stellen. Was widerspricht der Verfassung? Daß diese Möglichkeit in der UdSSR nicht vorgesehen war?

Die Sache der Verschwörer schien aufzugehen, als sich auch noch die Kirche in den Konflikt als Vermittler hineindrängte. Die russische Orthodoxie besticht durch ihren pragmatischen Opportunismus. Doch hat sie im Vorfeld des Blutvergießens zu häufig Position auf Seiten der Jelzin-Gegner bezogen, um als unparteiische Instanz durchzugehen. Mit Sicherheit wollten ihre Würdenträger kein Blutvergießen, aber sie taten wenig, um den Vorbereitungen der Anhänger Ruzkois Einhalt zu gebieten. Sie drohten demjenigen, der mit der Gewalt beginne, mit Exkommunizierung. Als es vorgestern soweit war, schwieg die Kirche.

Hatte sie heimlich doch auf ein anderes Pferd gesetzt? Die Kirche hat sich in Rußland diskreditiert. Jelzin hat ihr Glauben geschenkt, um ihre Autorität auf seiner Seite zu haben. Er war damit schlecht beraten. Denn die andere Seite hat die Zeit zum Aufrüsten genutzt. Ruzkoi rief zur Meuterei auf, und Patriarch Alexej II. zelebrierte eine Messe im Parlament. Irgendwas paßt da nicht zusammen, oder doch? Als der Kampf entschieden war, erlitt der Patriarch einen Herzinfarkt...

Jelzin hätte Anfang letzter Woche durchgreifen müssen. Der Protest der Provinzen hätte keine allzu gefährlichen Dimensionen angenommen. Denn Rußland steht nicht vor dem Zerfall, wie die Opposition orakelte und der Westen es nachplappert. Jelzin suchte einen friedlichen Weg und fiel nochmals auf das Geheuchel derjenigen herein, die vorgaben, die Verfassung zu schützen. Wäre die Reaktion der USA letzte Woche nicht so schroff gewesen, hätten möglicherweise Menschenleben gerettet werden können. Die US-Administration schickte Jelzin eine unverhohlene Warnung: Man werde bei den aktuellen Entwicklungen besonders die Beachtung der Menschenrechte im Auge behalten. Nun wurden nicht nur die Rechte mit Füßen getreten. Man nahm Leute in Schutz, die ohne Federlesens per Verfassung wieder in die Diktatur marschieren wollten. Klaus-Helge Donath, Moskau