Die letzten Stunden der „Muschiki“

Den ganzen Tag ließ Rußlands „Gegenpräsident“ seine Anhänger gestern weiterkämpfen, obwohl es schon seit dem Vormittag keinen Zweifel am Sieg der Regierungstruppen gab. Rußland verfolgte die Kapitulation Ruzkois am Bildschirm.

„Muschiki (Männer), versteckt euch nicht hinter den Frauen, sammelt euch zum Sturm auf das Fernsehzentrum und das verbrecherische Rathaus!“ hatte Alexander Ruzkoi am Sonntag seine Anhänger aufgerufen. Der vom Parlament ernannte „Präsident“ stand auf dem Balkon des Weißen Hauses, versteckt hinter improvisierten Schutzschilden. Niemand hatte aber vor, auf ihn zu schießen. Boris Jelzin führte immerhin noch Verhandlungen mit dem aufgelösten Parlament im Danilow-Kloster, unter der „segnenden Hand“ des Patriarchen aller Reußen, Alexej II.

Als erst folgten dem Befehl Ruzkois die hysterischen Fanatiker, die Tag und Nacht vor dem Obersten Sowjet demonstriert hatten. Sie sammelten sich zu Tausenden und marschierten zum Rathaus, das nur einen halben Kilometer vom Weißen Haus entfernt ist. Unterwegs zerstörte die randalierende Kolonne Straßenschilder und plünderte Kioske. Nicht mehr als einhundert Polizisten standen in den Ketten zwischen ihnen und dem Rathaus – nur mit Platzpatronen in ihren Kalaschnikows. „Faschisten! Faschisten!“ skandierte die Menge. Schon auf der Brücke vor dem Rathaus gab es die ersten Opfer. Aber nicht unter den Angreifern. Mehrere Polizisten und die zwanzigjährigen Omon- Rekruten aus der Truppe des Innenministeriums wurden schonungslos zusammengeschlagen. Die letzte Reihe der Verteidiger des Rathauses schoß mit Platzpatronen in die Luft, als von der Seite der Angreifer der erste Todesschuß kam. Das Blutvergießen hatte seinen Anfang genommen.

Oktober ist in Rußland die Zeit der Revolutionen. Dennoch konnte sich noch an diesem sonnigen Wochenende kaum jemand vorstellen, daß es in wenigen Stunden zu kriegerischen Handlungen kommen würde, die Moskau in diesem Ausmaß seit der Oktoberumwälzung und dem Bürgerkrieg nicht mehr gekannt hatte. Die Fanatiker aus den kommunistischen Gruppierungen „Arbeitendes Moskau“ und Faschisten der „Nationalen Rettungsfront“ waren durch die schlaflosen Nächte vor dem Weißen Haus so aufgeheizt, daß sie bereit waren, für ihre Idee zu töten und zu sterben. Und die Söldner aus dem „Offiziersbund“ warteten schon lange darauf, ihre Kriegserfahrungen aus den Krisenregionen des zerfallenen Sowjetreiches endlich mal in Rußland einzusetzen.

Noch am späten Sonntag nachmittag durchbrachen sie mit einem Lastwagen die Einfahrt des Rathauses und stürzten hinein. Die Menge ergatterte zwei Militärlastwagen, Maschinenpistolen und die Schutzwesten der niedergeschlagenen Polizisten und vertrieb die Wachmannschaft des Parlamentsgebäudes. Das reichte ihnen aber nicht, sie ließen sich vom Blut nicht abschrecken und schickten ihre Leute zum weiteren Kampf, zum Sturm der Fernsehzentrale in Ostankino.

Es ist schon dunkel. Geschützfeuer flackert auf zwischen den Häusern des riesigen Fernseharsenals Ostankino. Auf der Straße vor dem Komplex stehen einige Panzerfahrzeuge, ihre Motoren laufen. Jugendliche machen sich an sie heran. Sie alle wollen eins wissen: Auf wessen Seite seid ihr? Die Kindergesichter, die aus den Luken schauen, lächeln verschämt. Sie werden es nicht sagen. Wer gab den Befehl? Angeblich keiner. Gibt es sowas beim Militär? Soll vorkommen, meint ein angetrunkener Passant. Um die Ecke, einige hundert Meter weiter, wartet eine Polizeikolonne, zehn Lkw mit voller Mannschaft in Kampfmontur und Kalschnikows zwischen den Beinen. Sie warten, sie tun nichts. Der Kommandeur gibt keine Auskunft. Er selbst weiß von nichts. Angestrengt hören die Milizionäre Neuestes übers Radio. Längst veraltet. Sie wissen tatsächlich nichts. Die Spannung ist ungeheuer. Wenige Meter weiter auf dem freien Platz zwischen den Fernsehgebäuden wüten Panzerfahrzeuge. Auch hier zunächst Ungewißheit: Wer sind die? Ohne Unterbrechung halten sie auf den Eingang des Fernsehzentrums zu, das längst in Flammen steht. Dann rammt einer in die Fensterfront. Maschinengewehrsalven. Ein Zuschauer bricht zusammen, seine Eingeweide treten aus dem Bauch. Ein paar Mutige robben sich heran, um ihm zu helfen. Sie schleifen ihn zu einem parkenden Pkw, eine Blutspur hinter sich. Es ist schon zu spät. Die Panzerfahrzeuge drehen in Windeseile, und nun schießen sie auf uns. Die Menge birst auseinander. Wirft sich hin. Jetzt ist klar, wer in den Panzern sitzt. Es sind die Leute Ruzkois und Makaschows. Ihre Lichtkegel suchen den Fernsehturm ab, bevor sie draufhalten. Gerüchte gehen, die Besatzungen seien Abchasen, die Ruzkoi zu Dank verpflichtet seien. Ruzkois Gleichgesinnte haben den Abchasen gerade zu einem Sieg im georgischen Suchumi verholfen.

Die Leute, die herumstehen, sind Schaulustige. Die einen für Jelzin, die anderen gegen ihn. Das macht aber nichts. Hier wird ein Live-Spektakel aufgeführt. Das vereint. Bei der Panzerkolonne auf der Rückseite des Komplexes geht etwas vor sich. Der Kommandeur meint: Wir gehen los. Sie prüfen ihren Funkkontakt. Haben wir den überhaupt? Alles macht einen desolaten Eindruck. Sie fahren ins Gefecht, ohne vorher ihre Fahrzeuge auf Gefechtsbereitschaft geprüft zu haben? Der Kommandeur gibt sich zu erkennen: Wir greifen sie jetzt an, um die Verwundeten aus dem Gebäude zu holen. Man ist erleichtert, es gibt also doch noch andere hier. Ganze sechs Panzerfahrzeuge können nichts ausrichten. Wo bleibt die so lange angekündigte Unterstützung? Eine Stunde vergeht und nichts passiert. In der Zwischenzeit haben sich Einheiten im nahegelegenen Park verschanzt. Wild wird aufeinander geschossen. Wenn das Feuer aufflackert, sieht man auf der gegenüberliegenden Seite hilflose Menschen hin- und herrennen. Geschosse fliegen in Wohngebiete. Es scheint alles egal zu sein. Nur einige Freiwillige bilden eine Straßensperre, um die Autos nicht durchs Schußfeld fahren zu lassen. Sie scheinen überhaupt keine Angst zu haben. Wie die Schaulustigen, die sich ein wenig Schutz in Mauernähe gönnen. Auch hier sieht es so aus, als ginge sie das Ganze nichts an, ein Computerspiel live.

Eigentlich hätte sich Jelzin mal melden können. Seit der Verhängung des Ausnahmezustandes hat man von ihm nichts mehr gehört. Was planen die eigentlich? Verweigert die Armee den Befehl? Der Präsident müßte doch mal etwas zur Lage sagen. Es gibt ihn momentan nicht.

Zwei Kilometer stadteinwärts, am Park der Sozialistischen Errungenschaften, sitzen die Menschen hinter Laternenpfählen und Bäumen. Die Geschosse sind hier rübergeflogen, einen Pkw hat eins davon zermalmt, so scheint es. Ansonsten ist es ein ruhiger Sonntag abend. Auf dem Prospekt Mira ist wenig Verkehr. Nichts erinnert an einen Ausnahmezustand, erst wieder die Barrikaden im Stadtzentrum. In der Zwischenzeit haben Jelzin-Anhänger sich vor dem Haus des Stadtsowjets auf der Twerskaja versammelt. Gegen elf Uhr sind es um die fünfzehntausend. Die Menge ist gutgelaunt. Erstaunlich gut. Der Präfekt eines Stadtbezirks fordert die Leute auf, Hundertschaften zu bilden, Kommandeure zu wählen und die in den Sowjet zu schicken, um Aktionen mit dem Innenministerium abzusprechen. Er warnt davor, eigenmächtig zu handeln. Waffen hat die Menge nicht, im Sowjet lagern auch keine. Erfolgsmeldungen werden vom Balkon herunter verlesen. Der Präsident habe vor zwanzig Minuten bekanntgegeben, das Fernsehzentrum sei befreit worden. Jubel geht durch die Reihen. Gleichzeitig wird Jelzins Dekret verlesen, in dem er Ministerpräsident Tschernomyrdin zu seinem Vizepräsidenten macht, sollte ihm etwas zustoßen. Gelächter erntet die Bekanntmachung der Amtsenthebung Ruzkois und seine Entlassung aus der Armee. Unterdessen ziehen Gruppen von Freiwilligen mit Eisenstäben bewaffnet unter dem Balkon durch. Die meisten Demonstranten entschließen sich, die Nacht hier auszuharren. Überall schießen „Natschalniks“ – Vorgesetzte – wie Pilze aus dem Boden. Auf beiden Seiten. Sie regulieren die Durchgänge, organisieren die Barrikaden und unterstreichen ihre Wichtigkeit durch „unumstößliche Anordnungen“. Schließlich lassen sie sich doch umstimmen. Die Innenstadt ist mit Barrikaden zugebaut. Truppen des Innenministeriums gehen vor der Nachrichtenagentur ITAR-Tass in Stellung. Um ein Uhr stehen Truppen auch vor dem Verteidigungsministerium. Es sind wenige. Wieder die Frage: Wo bleibt die Unterstützung? Der Präsidentensprecher Kostikow kündigt aus dem Behelfsstudio in der Stadt den Anmarsch größerer Einheiten an. Die Kommandeure der Armee haben Jelzin ihrer Loyalität versichert. Der Kreml sei schon jetzt geschützt. Unklarheit. Die Sache muß so schnell wie möglich über die Bühne gebracht werden.

Die ganze Nacht warten auf den angekündigten Sturm des Parlaments die Anhänger von Chasbulatow und die Truppen von General Makaschow, dem Leiter des Stabes im Weißen Haus. Die von der Zahl der Opfer erschütterten Moskauer nennen den Sitz des Obersten Sowjets jetzt „Schwarzes Haus“. Viele von ihnen schlafen nicht und verfolgen die Nachrichten des russischen Fernsehkanals, die die ganze Nacht aus einem Behelfsstudio gesendet werden.

Um sieben Uhr am Montag morgen kommen die ersten Panzerwagen der Regierung. Die Verteidiger versuchen, sie mit Molotowcocktails und Maschinenpistolen aufzuhalten, werden aber auseinandergetrieben. Nur die bis auf die Zähne bewaffneten „Muschiki“ von Ruzkoi verstecken sich in dem belagerten Gebäude. Von da an erlangen die Regierungstruppen die militärische Überlegenheit. Der Fall des „schwarzen“ Weißen Hauses ist nur noch eine Frage der Zeit.

Vom anderen Ufer der Moskwa schießen die Panzer auf den oberen Teil des Gebäudes. Schwarze Rauchwolken steigen auf. Die Sondertruppen der Polizei erobern ein Stockwerk nach dem anderen. Und als es schon keinen Zweifel am Sieg Jelzins mehr gibt, kommt endlich die mit Spannung erwartete Ansprache des Präsidenten. Er erklärt die Anstifter des Aufstands zu Verbrechern, verbietet alle daran beteiligten Organisationen und Gruppen.

Dennoch lassen der Ex-General und der Ex-Sprecher den ganzen Tag lang ihre Leute kämpfen, bis sie endlich am späten Nachmittag kapitulieren. Es gibt noch keine zuverlässigen Angaben über die Zahl der Opfer, aber es handelt sich um mehrere Hunderte auf beiden Seiten. „Oh my God“, schreit die Korrespondentin des US-Fernsehkanals CNN auf, als sie die Meldung hört, es seien fünfhundert Tote allein im Gebäude des Parlaments. Die Live-Übertragung wird auch vom russischen Fernsehen übernommen. Ganz Rußland sieht die Szene, die weltberühmt werden dürfte: Mit hocherhobenen Händen, ohne Waffen, verlassen die „echten Männer“ und Anführer das niedergebrannte und mit schwarzem Ruß bedeckte Weiße Haus. Boris Schumatsky und

Klaus-Helge Donath, Moskau