Neulich...in der längsten Nacht der Welt

■ Noch etwas Denkwürdiges ist über das italienische Volk zu berichten: Es schläft nicht - höchstens tut es, als schliefe es

Und auch das nur aus Freundlichkeit, solange Touristen zugegen sind. Aber der Reihe nach.

Ich persönlich liebe den Gesang über die Maßen. Wenn es nicht anders geht, auch gerne bis drei Uhr morgens. Auf Berghütten aber liebe ich den Gesang nur bis punkt 22.30 Uhr, denn dann hat Hüttenruhe zu herrschen; der nächste Tag ist schlimm genug.

Gut, dachte ich, als es gegen elf ging, drunt' in der Stuben haben sie viele Lieder und frohe Herzen; es will noch ein Weilchen fortgesungen sein, dachte ich und nagte tapfer am Schlafsacksaum. Sie waren ja auch durchaus schön, die Lieder, wie sie da heraufschmetterten durch die Nacht; die beliebtesten konnte ich nach und nach schon mitbrummeln. Was mich aber wirklich ängstigte, war die Fröhlichkeit hier oben im Schlafsaale selber: Auch diese mochte keineswegs abebben. Kaum trat ein ermatteter Sänger durch die Tür, sich zu betten, fuchtelte allseits Taschenlampenlicht durchs Dunkel, fuhren von allen Lagern freudig die Schläfer hoch und begannen unverzüglich, die anstehenden Fragen zu debattieren.

Nun müssen Sie wissen, daß es das Rührendste von der Welt ist, wenn das italienische Volk versucht zu flüstern. Die zum Flüstern erforderliche Tonlosigkeit ist ihm einfach nicht gegeben; es spricht also aus vollem Halse wie sonst auch, nur viel gepreßter, also lauter.

Nahe Mitternacht befiel mich eine gewisse Unruhe. Drunten in der dampfenden Stube schwoll immer noch mächtiger der Lärm, loderte immer noch feuriger der Gesang. Gewaltige Heizer mußten am Werk sein, die Stimmung zu schüren und neues Liedgut nachzulegen, bis wieder alle Sängerseelen aufflammten und die Nacht zum Tag machten. Da polterte es oben an der Tür des Schlafsaales, und dies war der Beginn des Grauens. Sogleich fuchtelte allseits Taschenlampenlicht durchs Dunkel, fuhren von allen Lagern freudig die Schläfer hoch und setzten unverzüglich die Debatte der anstehenden Fragen fort und einiger neuer überdies, denn das Poltern rührte von einem Besoffenen her, welcher hundserbärmlich triefend im Türrahmen hing.

Die Aufregung war enorm: In einer prächtigen Tutti-Szene eiferte nun alles italienische Volk durcheinander, und übergroß war offenbar die Freude, daß keiner mehr mangels besserer Unterhaltung dumm herumschlafen mußte. Ausführlich wurde erörtert, wo am besten Besoffene zu verwahren seien, und jeder Vorschlag wurde sogleich erprobt: Die einen räumten lärmend die Lagerstätten um, die andern schleuderten Kissen und Decken durch den Saal, die dritten gaben Kommandos, die die vierten keineswegs befolgten, und kichernde Pärchen nutzten die Gelegenheit, übereinander zu krabbeln, während die Saalältesten zu dem Beschluß kamen, der allerbeste Platz für Besoffene sei neben mir.

In dem Augenblicke aber, da ich mich meiner Verzweiflung hingeben wollte, wurde der Besoffene von einem elementaren Würgen gepackt und stürzte aus der Tür; ein bleicher Mann, womöglich sein Bergkamerad, hinterdrein. Nun ist es immerhin ausgestanden, dachte ich und schlief endlich, endlich ein und wachte sofort wieder auf.

Es war eine halbe Stunde später, und der Besoffene stand schon wieder in der Tür, schlotternd und triefend wie neu, und diesmal hatten ihn zwei Männer untergehakt, die mit Stirnlampen herumfuhrwerkten, während der Bergkamerad, der dem Besoffenen vorher gefolgt war, ihm von hinten lauthals Vernunft predigte. Weil aber der Besoffene in greulich Rumoren verfiel, sooft man versuchte, ihn in seinen Schlafsack zu stopfen, wurde er wieder mit viel Lärmen und Würgen hinausgeschleift, und ich wähnte mich ein weiteres Mal davongekommen, wenn auch erst einmal im Saale die Aufregung über dies neuerliche Erlebnis ungeheuer war.

Alle saßen aufrecht, leuchteten freudig herum und besprachen den Fortgang der Dinge, unterstützt von den letzten Sängern unterhalb, die noch auf ihrem einsamen Posten in der Stube aushielten und gegen das Vordringen der Stille brüllten. Ich aber, nunmehr der Gnade der Erschöpfung teilhaftig, entkam mit knapper Not in den Schlaf und wachte sogleich wieder auf.

An meinem Lager kauerte schrecklich stöhnend der Besoffene, und es war offenbar nunmehr sein Wille, sich über mir zu entleeren, während eine Frau ihm geduldig eine Unzahl von Gegenargumenten vortrug. Schon lebte der Saal wieder freudig auf, bis schließlich der Bergkamerad ein Einsehen hatte und den Besoffenen mit nach draußen nahm, um dort allerdings die Debatte um so lauter mit ihm fortzusetzen. Das dauerte nun eine Stunde, während der ich gar nicht mehr schlief, auch weil immer wieder von wechselnden Eingreifkommandos der Versuch unternommen wurde, den Besoffenen doch noch neben mir aufzubahren.

Aber was tun? An Flucht war nicht zu denken; endlos lag die schwarze Nacht der Berge um die Hütte her, und hinter jeder Ecke mochten Sturmwinde lauern, mich in den Abgrund zu schleudern. Nein, ich mußte alles stumm ertragen. Der Stand meiner Italienischkenntnisse befähigte mich noch nicht einmal, den Saal mit der Schilderung meiner Leiden und Befürchtungen zu erschüttern; auch meinen Wunsch, den Besoffenen zum freimütigen Herumsauen in die gefliesten Waschräume zu sperren, konnte ich nicht angemessen ausdrücken. Es wäre freilich auch sinnlos gewesen, denn das hätte ja geheißen, das Schlafsaalvolk zum Schlafen zu nötigen.

Ich sage die Wahrheit, wenn ich sage, daß es noch lange derart hin und her ging. Am Ende muß ich doch noch ein wenig geschlafen haben, denn als ich zum letzten Mal erwachte, es war morgens, peinigte mich sogleich die Ahnung, daß nun nichts mehr wie früher war. Richtig, der Besoffene hatte seinen Frieden gefunden und schnarchte hinter mir im Winkel. Die markante Kleinigkeit ersah ich erst später: Während meines kurzen Schlummers war es ihm offenbar geglückt, über meine letzten trockenen Socken zu kotzen. Ich steckte ihm einen davon ins offene Maul, wankte hinaus und verschwand in der Stille des Gebirges. Manfred Dworschak