Versicherungs-Gesellschaft

Vom strukturellen Opportunismus des Staates. François Ewalds Theorie des „Vorsorgestaates“  ■ Von Friedrich Balke

Die Diskussion der Überlegungen Michel Foucaults zur „Bio- Macht“, wie sie hierzulande geführt wird, leidet an einer doppelten Trivialisierung, einer soziologischen und einer philosophischen: daß zum ersten Mal in der Geschichte sämtliche Variablen des Lebens der Bevölkerung Gegenstand politischer Regulierungen werden, dieses Ereignis reduziert der Soziologe allzu schnell auf eine bloß quantitativ beachtliche Ausweitung des Interventionsspielraums, der dem Staat deshalb zuwächst, weil die Gesellschaft an ihren im Gefolge der Industrialisierung selbsterzeugten Problemen zugrunde zu gehen droht; daß die Durchsetzung der Bio-Macht mit einer vollkommen neuen Konzeption des Rechts verbunden ist, die mit dem, was wir, dem klassisch-liberalen Sprachgebrauch verpflichtet, immer noch unter Recht verstehen, nichts mehr gemeinsam hat, wird systematisch von den Philosophen verkannt, die die Macht auf die Seite der reinen „Faktizität“ schlagen, um ihr dann im Namen der „Geltung“ vernünftiger Normen einen imaginären Prozeß zu machen. Solange die „Norm“ als ein unveränderlicher Maßstab, als eine strikt äußerliche Beurteilungsregel gedacht wird, entzieht sich jene Macht unserem Blick, die aus der Norm längst das flexible Medium laufender gesellschaftlicher Selbstanpassung gemacht hat.

François Ewald bemerkt in seiner Theorie des „Vorsorgestaates“ über dem Zeitraum seiner Untersuchung (1804-1898): „Kaum ein Jahrhundert hatte genügt, um eine Welt zum Einsturz zu bringen.“ Diese Formulierung faßt das Ergebnis eines Prozesses zusammen, den man die Sozialisierung der juristischen Norm nennen könnte: Statt der Macht weiterhin die Bedingungen, den Modus und die Grenzen ihrer Ausübung vorzuschreiben, wie es die klassische liberale Doktrin will, wird das neue Recht zu einem der wichtigsten Register einer Macht, die nicht mehr juristisch, sondern „normalistisch“ operiert. Ewald macht uns zu Zeugen des dramatischen Prozesses, in dessen Verlauf das Recht die klassischen Eigenschaften der Juridizität verliert und nicht mehr als „Gesetz“ funktioniert, das Schuld zuweist und bestraft, sondern als „Norm“. Diese Norm regelt, ausgehend von der durchschnittlichen Erwartbarkeit sozialer Übel, die Umlegung der entstandenen Kosten – nach dem Modell der Versicherung – auf die gesamte Gesellschaft.

Die Herausbildung des modernen, nachliberalen Sozialrechts läßt sich in Frankreich besonders gut auf dem Terrain der juristischen Regelung von Arbeitsunfällen verfolgen. Das Material, das Ewald aus den Archiven der parlamentarischen Gesetzgebungsmaschine zutage fördert, läßt uns sehr genau jenen Punkt erkennen, an dem das liberale Recht zugunsten der neuen juristischen „Norm“ abdanken muß, die das Ereignis des Unfalls nicht mehr in Kategorien der persönlichen Schuld und der Haftung, sondern in denen des statistisch berechenbaren Risikos und der Versicherung denkt. Für das liberale Denken lag die Zumutung der neuen politischen Rationalität darin, daß sie den Abschied von dem geheiligten Prinzip „Keine Schuld ohne Verschulden“ verlangte: Das neue „Diagramm der sozialen Regulierung“ konnte nur funktionieren, wenn man die Zuweisung des Schadenersatzes völlig von der Feststellung der Schadensursache trennte. Um dieser Konsequenz zu entgehen, war das liberale Denken, dem man so gern Kumpanei mit dem Kapital vorwirft, sogar bereit, den Arbeitgebern bei Arbeitsunfällen eine generelle Haftungsvermutung aufzubürden. Das änderte freilich nichts an der Notwendigkeit, daß der verunfallte Arbeiter seinen Haftungsanspruch vor Gericht durchsetzen mußte: Konnte dem Arbeiter „grobe Fahrlässigkeit“ nachgewiesen werden, resultierte der Unfall aus einer „immanenten Gefahr“ der industriellen Produktion selbst, die keinem verursachenden „Willen“ zuzurechnen war, oder ließ er sich weder auf schuldhaftes Verhalten noch auf eine erkennbare Ursache zurückführen, dann wurde dem Unfallopfer jede Entschädigung verweigert.

Statt dem Arbeiter also, wie die liberalen Juristen gehofft hatten, ein wirksames Instrument zur Durchsetzung seiner Entschädigungsansprüche in die Hand zu geben, löste die Sicherheitspflicht des patron lediglich eine unabsehbare Prozeßflut aus, die das „soziale Klima“ zwischen den Klassen zu vergiften drohte. Das im Code Civil von 1804 festgeschriebene Haftungsrecht mochte noch so sehr die moralische Würde des Menschen verkörpern, es wurde in dem Moment unhaltbar, als seine Anwendung auf die neuen sozialen Konfliktmaterien zu einer Verschärfung der gesellschaftlichen Klassengegensätze führte: Die Aufgabe, vor die sich die liberalen Politiker gestellt sahen, bestand darin, eine Reform der Unfallgesetzgebung zu ersinnen, die die „Prozesse abschaffen“ würde, kurz gesagt, es ging um die Erfindung eines Rechts, das den Rechtsstreit und die Gerichte überflüssig machen würde, weil es seine eigene Anwendung regelt. Daß man mit einer solchen Reform den Horizont des liberalen Rechts unwiderruflich hinter sich lassen würde, war wohl nur den wenigsten der an ihr Beteiligten bewußt. Der Punkt war erreicht, wo die „Geschichte der Verantwortlichkeit“ in ihre entscheidende Krise eintrat.

Auf welche Rationalität, auf welche Diskurse und Praktiken konnte sich ein solches nachliberales Recht stützen, das natürlich nicht vom Himmel fiel? Welchen epistemologischen Veränderungen verdankt sich die Einrichtung einer „normativen Ordnung“, die mit einer völlig anderen Technik der Individualisierung des Unfallereignisses verbunden ist als die überkommene „Rechtsordnung“? Der Unfall wird nicht mehr als ein temporärer Einbruch des „Zufalls“ in eine prinzipiell geordnete Welt begriffen, sondern als ein statistischen Regelmäßigkeiten gehorchendes, erwartbares Ereignis; er wird als „Risiko“ einer bestimmten sozialen Gruppe objektiviert und nicht mehr auf den „Willen“ eines Individuums oder eine objektive Ursache zurückgeführt. Der Gedanke des Risikos bricht mit jeder Ontologie des Unfalls: das Risiko sagt uns nicht, „was“ der Unfall seinem Wesen nach ist (das Ergebnis schuldhaften Handelns oder objektiver Mechanismen, wie die liberale Metaphysik lehrte), sondern definiert bloß die Wahrscheinlichkeit, die „Neigung“ oder „Tendenz“ seines Eintretens. Die „politische Technologie“ des Risikos entsteht aus der Kombination von statistischer Beobachtung mit der mathematischen Wahrscheinlichkeitsrechnung, der „Geometrie des Zufalls“: es wird nun möglich, „das Soziale“ ohne jeden metaphysischen Bezug zu einer „Natur des Menschen“ zu denken. An deren Stelle tritt die Norm des Durchschnittsmenschen, eine Norm, die strikt komparativ funktioniert, das heißt ein Prinzip der Vergleichbarkeit angibt, „das sich in der reinen Referenz einer Gruppe auf sich selbst herausbildet“. Weil ein Einfluß des menschlichen Willens auf die Wahrscheinlichkeit der Arbeitsunfälle (so wenig wie auf die Geburten-, Heirats-, Todes- oder Verbrechensrate) nicht nachweisbar ist, erzwingt die Beschreibung der Unfälle als Risiken auch einen neuen Modus der Schadensregulierung: Die Praxis der Versicherung bindet den Anspruch auf Entschädigung unmittelbar an das Faktum des Unfalls, ohne daß noch die Schuldfrage gerichtlich geklärt werden müßte.

Mit der Erfindung des „Berufsrisikos“ war eine Entwicklung in Gang gekommen, an deren Ende jeder Bereich der gesellschaftlichen Existenz des Menschen ein potentielles Risiko darstellte. Leben ist per se riskant, Unfälle, Widersprüche und Konflikte, selbst wenn sie sich in Verbrechen, Aufständen oder Kriegen gewaltsam entladen, sprengen nicht die soziale Ordnung, sondern sind ein integrales Moment ihrer Entwicklung und tragen sogar in letzter Instanz zum Fortschritt bei. Daher müssen auch die Kosten sozialer Friktionen nicht etwa denen aufgebürdet werden, die sie „verursachen“, Kriegstreibern oder Unruhestiftern, sondern der Gesellschaft als Ganzer, die das Knirschen der sozialen Maschine zum Anlaß nehmen muß, ihren Operationsmodus zu überprüfen, Strukturen zu ändern. Alles, was die Gesellschaft hervorbringt, ist gut, denn: „Alles hat eine Funktion, alles ist die Ursache von allem, nichts ist damit von sich aus strafbar.“ Der „Solidaritätsvertrag“, der den klassischen, individualistisch konstruierten „Gesellschaftsvertrag“ ablöst und die jeweilige „Verteilung der sozialen Lasten“ festlegt, muß zwischen der Gesellschaft und ihren Mitgliedern ständig neu ausgehandelt werden: das soziale „Fließgleichgewicht“, das er herbeiführen soll, verlangt eine konsequente Politik der informationellen Durchdringung aller sozialen Zusammenhänge.

Ewalds Bilanz erkennt im Vorsorgestaat den notwendigen Rahmen für die Fortentwicklung der Industriegesellschaft, die die Regulationskapazität des liberalen Rechts übersteigt. Sie bestimmt ihn weiter als einen wesentlich permissiven Staat, der es sich, was immer die Feuilletons auch an Gegenteiligem behaupten, leisten kann, auf Moral oder gar Autorität zu verzichten, weil sein Zusammenhalt durch eine „normative Ordnung“ hergestellt wird, die ihre „Werte“ laufend neu definiert; der Vorsorgestaat operiert biopolitisch, ihm liegt an der Freiheit seiner Bürger deshalb soviel, weil sie zur Steigerung des „Lebens“, zur Erhöhung der Produktivität unabdingbar ist; schließlich erlaubt die Institutionalisierung des Vorsorgestaates erstmals, die vollständige Selbstreferenz des Sozialen zu denken: es gibt kein „Außerhalb der Gesellschaft“ mehr, Archimedes hat auch in den Gesellschaftswissenschaften abgedankt, und Luhmann kann beginnen, auf Tausenden von Seiten die Konsequenzen aus dieser neuen Lage zu ziehen.

An dieser Stelle bricht die deutsche Übersetzung des Buches ab, obwohl der französische Text noch ein weiteres „Buch“, das „Livre IV“ enthält, auf das, so teilt uns der Verlag mit, „in Absprache mit dem Autor“ verzichtet wurde. Das ist um so bedauerlicher, als Ewald in diesem, ein Drittel (!) der französischen Ausgabe umfassenden Teil die Geschichte des Vorsorgestaates bis in unsere Gegenwart hinein fortschreibt und gleichzeitig eine Theorie seiner aktuellen Gestalt entwirft. Unter dem Titel „L'ordre normatif“ analysiert Ewald die atemberaubende Ausbreitung der Risikopraktiken im Verlauf des 20. Jahrhunderts, die im Zeitalter der ökologischen Frage auch das private Verhalten immer rigoroser einer sozialen Kosten-Nutzen-Kalkulation unterwerfen. Welche Kaffeefilter man benutzt, welches Waschpulver, welche Kühlschränke, welches Haarfärbemittel: eine Pädagogik des Risikobewußtseins schließt die scheinbar ephemersten Wahlentscheidungen der Individuen unmittelbar mit dem Überleben der Gattung kurz. „Alles ist politisch“, lautet die Maxime des Vorsorgestaates, wobei „politisch“ hier bloß die permanente Bereitschaft des Staates zur Revision einmal getroffener Entscheidungen bezeichnet, eines Staates, der längst alle klassischen Merkmale seines souveränen Vorgängers eingebüßt hat. Die Sicherheit, die der Vorsorgestaat gewährt, soll keinen „Zustand“ („status“) konservieren, sondern im Gegenteil die größtmögliche Mobilität seiner Bürger erlauben, ein Ziel, das nur durch eine konsequente Dynamisierung aller sozialen Strukturen erreicht werden kann. Der Vorsorgestaat darf niemals Stabilität auf Kosten von Dynamik sichern. Die Identität dieses „Unstaates“ bestimmt sich durch seinen strukturellen Opportunismus, durch seine Unfähigkeit, sich selbst gleichzubleiben. Kein Problem wird mehr dadurch gelöst, daß man es „an der Wurzel packt“. Widersprüche, Konflikte und Instabilitäten, von denen auch die Sicherheitsdispositive selbst nicht verschont bleiben, sind nicht mehr „ein für allemal“ zu beseitigende Übel, sondern notwendige Anlässe für eine auf Dauer gestellte Regulationstätigkeit des Staates. Die Krise des Sozialstaates, wir wissen es längst, ist endogen. Für die Kunst des politischen Sich- Durchlavierens besteht keine Aussicht, jemals das rettende Ufer zu erreichen: sie bleibt im Fluß. Das wenige, was Ulrich Beck in einem nachgeschobenen Essay über die Gegenwart und Zukunft der Risikogesellschaft anmerkt, ist nur ein schwacher Ersatz für den uns vorenthaltenen Schlußteil des Ewaldschen Buches.

Wer sich noch erinnert, wie Mitte der achtziger Jahre in Deutschland so mancher Philosoph Gefallen daran fand, der Foucaultschen Machttheorie allerlei „Aporien“ vorzuwerfen und sie so zurechtzubiegen, vornehmer gesagt: zu rekonstruieren, daß sie als eine zu weit getriebene Rationalitätskritik erschien, der kann sich bei François Ewald von dem ungeheuren analytischen Potential einer anderen Theorie der Moderne überzeugen, einer Moderne, die sich nicht mehr im Horizont Kants begreifen und schon gar nicht kritisieren läßt: Die sich im 19. Jahrhundert herausbildende „normative Ordnung“ entzieht sich dem Zugriff einer Sozialphilosophie, die im Namen einer „Norm“ spricht, gegen deren Vernünftigkeit (was ist vernünftiger als die Fiktion der „Verantwortlichkeit“?) sich die operative Rationalität unserer Gesellschaften gerade durchgesetzt hat. Wenn es stimmt, daß ein bedeutendes Ereignis seine Zeit braucht, bis es bei uns ankommt, dann dürfen wir sagen, daß der Theoretiker der politischen Moderne, der Foucault war, jetzt – endlich – bei uns angekommen ist: „Der Vorsorgestaat“ von François Ewald, ihm gewidmet, beweist es.

François Ewald: „Der Vorsorgestaat“. Aus dem Französischen von Wolfram Bauer und Hermann Kocyba. Mit einem Essay von Ulrich Beck. Suhrkamp Verlag, 558 Seiten, 30 DM